„Ah ja, das ist doch ein Flachdruckverfahren. Und wie hat er bei dieser Technik den Entwurf auf die Steinplatte gebracht?“
„Gar nicht! Wissen Sie, der Druck war unsere Sache. Der Dix kam bei uns immer mit seinen Zeichnungen an, die wir in die Steinplatte geritzt haben. Dabei hat er uns dauernd über die Schulter geschaut. Erst danach hat er tagelang an der Platte rumgemacht, bevor wir drucken durften. Der war oberpenibel, wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Heinrichs sprach schneller als zu Beginn.
„Es heißt, er sei ganz besonders pingelig gewesen mit seiner Kunst.“
„Das ist wohl wahr!“ Heinrichs ließ sich hinter dem vollgestellten Werkstatttisch nieder. Er wies auf einen Stuhl, der an der Wand stand.
Klinger setzte sich. „Was passiert eigentlich mit den Druckplatten, wenn die gewünschte Auflage erreicht ist?“
„Die werden vernichtet, das heißt, die Oberfläche wird abgeschliffen. Wieso fragen Sie?“
„Man hört gelegentlich, dass es Abzüge ohne Nummerierung gibt und ich frage mich …“
„Das wäre kriminell“, unterbrach ihn der Drucker, „zumindest dem Künstler gegenüber. Es kann sein, dass es so etwas irgendwo gibt, aber wir haben immer großen Wert auf korrektes Verhalten gelegt. Das war schon beim alten Ehrhardt so. Es kann natürlich vorkommen, dass ein Probeabzug versehentlich liegen bleibt und jemand ihn mitnimmt.“
„Verstehe. Also, Sie haben gesagt, der Dix hat die Zeichnung gar nicht selber auf den Stein übertragen?“
Heinrichs nickte heftig. „So ist es.“
„Das ist wirklich interessant. Die Stuttgarter Sammlung besteht hauptsächlich aus Gemälden. Das grafische Werk ist mir bisher nicht so vertraut.“
„Da haben Sie ja auch eine großartige Sammlung, wie man hört.“
„Wenn Sie einmal nach Stuttgart kommen, melden Sie sich doch bei mir. Es würde mich freuen.“ Klinger drückte dem Drucker seine Visitenkarte in die Hand. Er hatte sich extra vor der Reise welche drucken lassen.
„Danke, wer weiß, ob das je passiert.“
„Haben Sie jedenfalls vielen Dank für Ihre Geduld, aber jetzt will ich Sie nicht länger aufhalten. Außerdem fährt mein Zug bald.“
„Auf Wiedersehen, Herr …“, Heinrichs betrachtete die Karte, „Klinger.“
Während der Fahrt kam Jochen Klinger der Gedanke, dass Otto Dix wegen seiner zeitlich begrenzten Aufenthalte die Vernichtung der Platten wohl kaum immer überwachen konnte. Bei den Grenzkontrollen war er mit diesem Thema so beschäftigt, dass er gar nicht dazu kam, wegen einer eventuellen Entdeckung des Bildes in seinem Koffer nervös zu sein.
8) Jakobis Rettungsversuch
Stuttgart/Hemmenhofen, September 1989
Es war ein Versuch und Lorenz Jakobi hoffte inständig auf einen Erfolg. Unten im Tal waberten Reste von Morgennebel. Der Reisebus überquerte die Neckarbrücke auf der A 81 in Richtung Süden, als er zum Mikrofon griff. Er sah flott aus in seinem dunkelblauen Samtjackett, das er kürzlich angeschafft hatte, um Seriosität auszustrahlen. Für das Halstuch hatte er eine dezente Eierschalenfarbe gewählt.
„Ich begrüße Sie im Namen der Galerie Jakobi zu unserer ersten Dix-Exkursion. Wir werden in einer guten Stunde Radolfzell erreicht haben und anschließend dem Bodenseeufer entlang der Halbinsel Höri bis nach Hemmenhofen folgen. Wie Sie wissen, hat Otto Dix dort von 1936 bis zu seinem Tod im Juli 1969 gelebt. Sie werden dort auch Gelegenheit bekommen, Originalgrafiken des Meisters zu sehr günstigen Konditionen zu erwerben. Auf unserem exklusiven Besuchsprogramm steht außerdem eine Besichtigung der von ihm geschaffenen Kirchenfenster in Kattenhorn.“
Es wurde geklatscht. Die vierzig Kunstinteressenten im Bus gehörten alle seiner eigenen Altersgruppe an. Sie blickten mit freundlichem Interesse zum Redner. Nach richtig viel Geld sahen die meisten allerdings nicht aus. Vielleicht war die Aktion ein Schlag ins Wasser. Die Preise hatte er so kalkuliert, dass die Unkosten gedeckt sein sollten. Ein echter Verdienst sprang nur heraus, wenn der im Dix-Haus vorbereitete Kunstmarkt gut lief und er viel verkaufen konnte. Zusätzlich zu den eigenen Vorräten hatte er von Abelein aus dessen DDR-Fundus einige Abzüge übernommen. Er hoffte auf eine große Nachfrage nach Originalen des Meisters, die er mit den in seinem Koffer verpackten Schätzen bedienen wollte. Der Bus verließ die Autobahn kurz hinter Singen. Die bizarren Formationen der Vulkanlandschaft um die Stadt waren im aufsteigenden Nebel nicht zu sehen.
Der See lag ruhig hinter der Baumreihe, als sie in Iznang, der Hauptstadt der Büllen, die Straßenstände mit den Zöpfen aus den roten Zwiebeln passierten, die hier diesen seltsamen Namen hatten. Ab Gaienhofen grüßte vom anderen Ufer des sich verschmälernden Bodensees die Schweiz. Dem Kunsthändler Jakobi war bekannt, dass sich dort eine größere Zahl der von deutscher Unkultur als entartet geschmähten Werke von Otto Dix befand, als man gemeinhin vermutete. Er kannte die Preise, die solche Gemälde heute erzielten.
Der steile Weg durch den von Martha Dix gestalteten Garten in Hemmenhofen machte einigen der Besucher zu schaffen. Jakobi eilte leichtfüßig voraus und begrüßte die Leiterin des Hauses. Sie gehörte dem Vorstand des Trägervereins an, der das Haus als Museum führte. Die Gruppe versammelte sich in der Eingangshalle.
Die Dame brauchte kein Manuskript. Sie kannte ihren Text. „Sehr geehrte Besucherinnen und Besucher, Sie befinden sich in dem 1936 mit den Mitteln aus einer Erbschaft von Martha errichteten Wohn- und Atelierhaus der Familie Dix. Otto Dix fühlte sich hier am Bodensee in der Verbannung, eine Verbannung in die Landschaft, wie er es selber ausdrückte. Jedes Jahr verbrachte der Künstler eine längere Zeit in Dresden, wo ihm ebenfalls ein Atelier zur Verfügung stand. Hier am Bodensee…“
Jakobi verließ die Gruppe und ging auf die Terrasse, um eine Zigarette zu rauchen. Der Kettenraucher Bernd Köhnle hatte ihn wieder zum Rauchen verführt, als er mit ihm über eine mögliche Teilhaberschaft an der Galerie gesprochen hatte. Jakobi fragte sich, ob die Dix-Freunde des Museumsvereins von der zweiten Familie tatsächlich nichts wussten oder sie bloß nicht wahrhaben wollten. Heute wollte er an dieser frommen Lüge nichts ändern. Die Abzüge der Katharina König bot er als ‚Junge Frau mit schwarzen Haaren‘ an. Liebhaber waren empfindlich. Dunkle Seiten durfte es nicht geben.
Die Gruppe hatte bereits das Haus verlassen. Jakobi befand sich noch im Büro des Vereins. Der gemeinsame Kassensturz brachte ein niederschmetterndes Ergebnis: Fünf Lithografien und 70 Postkarten waren verkauft worden. Nach Abzug seiner Kosten würden vielleicht 1500 DM übrigbleiben. Die Hupe des Busses riss ihn aus der Erstarrung.
Er eilte die steile Treppe hinunter. Busreisende waren offenbar die falschen Adressaten. Mit seiner bis heute für genial gehaltenen Geschäftsidee würde er seine Galerie nicht sanieren können. Das Essen in den Fischerstuben schmeckte fad. Die Rückfahrt nach Stuttgart wurde ihm sehr lang, obwohl sie ohne den üblichen Stau am Stuttgarter Kreuz durchkamen.
Dresden, Februar 1990
Lorenz Jakobi hegte eine letzte Hoffnung. Als er die Fernsehberichte über die Öffnung der Mauer gesehen hatte und die ersten Trabis und Wartburgs mit ihren blauen Abgaswolken in Stuttgarts Straßen zu riechen waren, dämmerte es ihm, dass in Deutschland eine historische Veränderung stattfand. Der Kunstmarkt war von ihr genauso erfasst wie viele andere Bereiche. Es wäre doch möglich, dass auch er selber davon profitieren könnte? Vielleicht war die Galerie noch zu retten. Er musste sich beeilen. Dresden war auf einmal ein realistisches Ziel.
Die Transitautobahn war in erstaunlich gutem Zustand. Er erreichte Dresden in kürzerer Zeit als er es sich anhand einer Straßenkarte vorgestellt hatte. Der Zwinger oder die Semper-Oper interessierten ihn nicht, sondern er suchte sofort die Galerie Schulze auf. Das Wasser stand ihm bis zum Hals.
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