Köhnles erster Kunstkauf konnte die Beziehung zu Klinger nur vorübergehend beeinträchtigen. Den Abzug der Lithografie ‚Salon II‘ mit den ausgemergelten, halbnackten Frauengestalten hatte er Klinger weggeschnappt. Dieser kleine Verwaltungsrichter hätte sie sich sowieso nicht leisten können – bei dem bescheidenen Gehalt!
Heute Abend sollte der Beirat der Galerie abschließend über das Projekt der großen Dix-Ausstellung beraten, die ab Herbst 1991 stattfinden und später sogar nach Berlin wandern würde. Sie sollte die erste umfassende Werkschau seit 1971 sein und Köhnle verstand sie zugleich als Lohn für die jahrzehntelangen Aktivitäten der Galerie und vor allem als Belohnung für seine eigene Arbeit. Leihgaben der Dix-Stiftung aus Vaduz, aus Dresden und aus Gera waren zugesagt. Die jüngste politische Entwicklung hatte Schluss gemacht mit der Zweiteilung dieses Künstlers. Die ‚Wende‘ genannte Öffnung der DDR und die sich abzeichnende Aufnahme in die Bundesrepublik hatten der Galerie phantastische Perspektiven erbracht.
Sein Besuch in Dresden im letzten April war äußerst erfolgreich verlaufen. Die hatten dort keine Ahnung, was sie wirklich besaßen. Diese Situation musste entschlossen ausgenutzt werden.
Die Ausstellung würde auf jeden Fall ein Erfolg werden. Sollte aber der eingefädelte Deal klappen, wäre die Sensation perfekt und er ein Großer in der Kunstszene. „Guten Abend.“ „Hallo, Lorenz, wir tagen heute oben im Künstlercafé.“
Jakobi nickte. Das Tuch hatte einen Stich ins Lila und glänzte matt in der Abendsonne. Die ersten Beiräte hatten die Vorhalle erreicht. Köhnle trat auf den Platz hinaus und legte sich in Gedanken zurecht, was und wie viel er sagen wollte.
Die Sitzung war nach einer Stunde beendet. Er war bei Andeutungen geblieben, aber anschließend wies er den städtischen Kunstbeauftragten darauf hin, dass es nötig werden könnte, den Sonderfonds zu aktivieren. Der Beiratsvorsitzende war zufrieden mit sich und der Welt.
Als er nach Hause kam, fand er eine Einladung zum Klassentreffen am 16. Juni vor. Jochen Klinger hatte das dreißigjährige Abi-Jubiläum nicht vergessen. Zuverlässig war er. Wenn alles vorbei sein würde, könnte man sich wieder einmal treffen.
Stuttgart, Mai 1990
Jochen Klinger war unzufrieden mit sich und dem Leben. Seit zehn Jahren lebte er nach einer gescheiterten, viel zu früh geschlossenen Ehe mit seiner Karla zusammen. Sie entsprach nicht dem burschikosen Frauentyp mit der Bubikopffrisur, den er seit der Schulzeit begehrenswert gefunden hatte. Sie war nur wenig kleiner als er und ihr breites Gesicht war voller Lebensfreude, wenn sie lachte, was sie oft tat. Ihre Beziehung war von Anfang an intensiv und gleichberechtigt. Er musste nicht den großen Bruder einer verunsicherten Professorentochter geben, sondern durfte selber schwach, sogar unsachlich sein, ohne dass sich an ihrer Liebe zu ihm etwas geändert hätte.
Karla wusste, was sie wollte, und wenn sie mit ihm schlief, war sie wirklich ganz bei ihm. Sie ließ sich gerne verwöhnen und genoss seine Aufmerksamkeit. Sie war aber auch darauf bedacht, ihren eigenen Bereich zu erhalten und zu entfalten. So entwickelte sich eine Ehe, wie er sie sich gewünscht hatte.
Fast zwanzig Jahre war Klinger nun schon als Richter am Verwaltungsgericht tätig und er liebte seinen Beruf, genoss seine Freiheit und Eigenverantwortung. Vor vier Jahren hatte Karla den lang ersehnten Sohn Felix geboren. Er hätte rundum glücklich sein müssen.
Dennoch plagten ihn seit drei Monaten rezidivierende Kreuzschmerzen, die sein Bruder Andreas, ein Psychiater, als psychosomatisch bezeichnete. Richtig war, dass auch seine allgemeine Stimmung gedrückt war. Klinger war ein kräftiger, vollschlanker Mann, dessen Körpergröße von 1,85 Meter zurzeit deshalb nicht zu erkennen war, weil er sich ständig leicht nach vorne beugte, als trüge er eine schwere Last. Nicht einmal bei seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Radfahren, konnte er sich entspannen.
Die Geburt von Felix war eine lange Angelegenheit und für seine Frau sehr anstrengend gewesen. Das viele Blut, der Kopf, der zwischen Karlas Beinen endlich auftauchte und leicht bläulich angelaufen war, hatten Jochen Klinger nachhaltig beeindruckt. Nach den ersten Wochen des Glücks über das neue Leben war die Erinnerung an diese Szene immer wieder hochgekommen, wodurch ihr körperliches Zusammensein beeinträchtigt wurde. Natürlich hatte sich auch Karlas ganzes Geschlecht durch die Geburt verändert, was Jochen Klinger irritierte. Darüber zu sprechen, hatte er nicht geschafft.
Gestern war in der Zeitung zu lesen gewesen, dass die Städtische Galerie 1991 eine große Dix-Retrospektive vorbereitete. Sofort waren ihm die Nachmittage im Zeichensaal wieder eingefallen. Die Zeit am Dillmann-Gymnasium, das er erst ab der Oberstufe besuchte, war für ihn voller problematischer Erfahrungen gewesen, da die Mitschüler ihn nie ganz akzeptierten. Mit einigen Klassenkameraden konnte er über die gemeinsame Begeisterung für Otto Dix enger zusammenfinden. Bernd Köhnle gehörte dazu. Er war zwar ein eher grober Typ, besaß aber umfangreiche Kenntnisse über Otto Dix. Klinger musste auch seine Durchsetzungsfähigkeit und den geschäftlichen Erfolg anerkennen. Gegenüber Köhnle kam er sich schwach und unterlegen vor. Das würde er ihm natürlich nie sagen. Stattdessen führte er lieber Fachgespräche und demonstrierte seine geschliffene Sprache und das angelesene Wissen.
Den Dritten im Bunde, Lorenz Jakobi, bewunderte Klinger von Anfang an ehrlich, wenn auch mit etwas Neidgefühlen. Dem gelang alles und er kannte sich in Kunst, Literatur und Theater aus wie kein anderer. Das extravagante Äußere mit den schicken Halstüchern und später den Designerjeans machte ebenfalls Eindruck auf ihn, auch wenn er selber etwas dezentere Kleidung bevorzugte.
Vor zwei Monaten hatte eine andere Frau Klingers Leben aus ruhigen Bahnen auf einen Schlingerkurs gebracht. Sonja Buri war direkt nach dem Zweiten juristischen Staatsexamen an das Verwaltungsgericht gekommen. Seither wusste Klinger nicht mehr richtig, wo er hingehörte. Sie hätte zwar seine Tochter sein können, aber sie besaß bei aller Zerbrechlichkeit einen eisernen Willen und sie interessierte sich für Jochen Klinger.
Sonja Buri war eine sehr kleine Person mit kurzen, braunen Haaren, aber die Proportionen ihres Körpers erschienen Klinger perfekt. Sie akzeptierte ihn schnell als selbst ernannten Mentor und bewunderte sein Wissen und seine gebildete Ausdrucksweise grenzenlos. Wenn sie ihn aus ihren graublauen Augen anstrahlte, war Klinger nicht mehr der fünfzigjährige Kollege, sondern der verliebte Kommilitone. Fast widerwillig gestand er sich ein, dass er sich bei ihr wohl fühlte.
Er freute sich auf das nächste Wochenende, an dem sie gemeinsam einen zweitägigen Ausflug nach Hohenlohe machen wollten. Seiner Frau Karla hatte Klinger vorgelogen, die Neue Richtervereinigung führe ein Seminar im ehemaligen Kloster Schöntal durch und er müsse die jungen Kolleginnen und Kollegen dort betreuen. Sie glaubte ihm, jedenfalls kam es ihm so vor. Wie er sein Gewissen zum Schweigen gebracht hatte, war ihm selber nicht klar.
Er starrte aus dem Fenster seines Hauses auf der Gänsheide auf die gegenüberliegende Talseite und das frische Grün des Waldes, aber er nahm es nicht wahr. Im Fensterglas spiegelte sich die Lithografie, die er letztes Jahr in Dresden erworben hatte. Damals war ihm klar geworden, dass der Maler Otto Dix tatsächlich mit zwei Frauen und zwei Familien gelebt hatte. War das für ihn auch ein Modell? Apropos Dix, Bernd Köhnle war in dem Artikel zitiert worden. Er prahlte damit, dass die Städtische Galerie etwas Großes vorbereite, die erste Dix-Retrospektive nach der Wende in der DDR. Das Telefon stand auf dem Fenstersims. Er musste auf andere Gedanken kommen.
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