Da sagt die Eine: „der Arnold, dem sein Sohn, der hat doch am Samstach Gebortstach. Kennst du den ach?“ Darauf die Andere „Nä, hechschtens vom sejhe, schafft der ach bei uns uf der Sparkass?"
„Hallo, junger Mann, 9,95 bitte“ Joseph erschrickt, wird aus seinem Tagtraum gerissen. Mit entgeistertem Blick starrt er auf die Kassiererin des Supermarktes und muss sich erst sortieren. „Macht 9,95 Euro.“ Von hinten aus der Reihe der anstehenden Kunden schallt es ungeduldig „können sie nicht noch eine Kasse aufmachen?“ Joseph hat das Gefühl alle starren ihn an, glotzen böse aus ihren verfetteten Glubschaugen, würden ihn am liebsten zur Seite schieben. Hinter sich hört er den Satz “nu mach hinne, Alter, ich hab schließlich nicht den ganzen Tag Zeit“. Als er sich umsieht, da steht doch tatsächlich ein Tippelbruder mit einer Flasche Schnaps in der Hand, der so ungeduldig ist. Mit hochrotem Kopf verstaut Joseph wie ein ertappter Schüler seine Nudeln und macht sich auf seinen Stock gestützt davon. Jetzt ist er froh, von hier wegzukommen. Ludwigshafen ist von diesem Augenblick an für ihn erledigt, abgehakt, aus und vorbei.
Bewegung tut ihm gut. Jeden Tag soll er laufen, sonst kann er irgendwann sein krankes Bein vergessen, so drastisch hat ihm das Iwan, sein Physiotherapeut, bei ihrem letzten Termin unmissverständlich klar gemacht. So deutlich hat bisher noch keiner mit ihm über seinen Gesundheitszustand gesprochen. Nicht die Ärzte im Unfallkrankenhaus und auch nicht die Trainer in der Reha. Da hieß es immer nur „deutlich besser, sie machen sichtbar Fortschritte, und so weiter, bla, bla, bla“ nichts Konkretes. Aber Iwan Iwanowitsch, sein Heiler aus dem fernen Russenland, der war knallhart in seinen Beurteilungen. „Höchstens fifty-fifty sind deine Chancen, mehr nicht, aber wahrscheinlich weniger.“
Joseph musste immer lachen, wenn der an einen brutalen Ringer erinnernde Sporttherapeut so mit ihm palavert. Er konnte diesem kleinen mit Muskeln dick bepackten kahlköpfigen Mann einfach nicht böse sein. Er freute sich sogar auf die zwei Termine in dessen Praxis, die wöchentlich zu absolvieren waren. Dies war umso mehr verwunderlich, da sein Peiniger nicht zaghaft mit ihm umging. Bei der Verabschiedung, als Joseph noch einmal vorbeischaut und eine Flasche Original russischen Wodka aus dem Osteuropaimport in der Maudacher Straße dabei hat, da wurde es noch einmal lustig, obwohl ihm Iwan deswegen seine Gesundungsaussichten kein Jota besser darlegte.
„Das kann ich nicht annehmen, auf gar keinen Fall, ich mach doch nur meinen Job“ Iwan verstand es vortrefflich mit einem breiten Grinsen im Gesicht verbal das mitgebrachte Geschenk abzulehnen und gleichzeitig die Hand danach auszustrecken. So sollte es ja auch sein, dachte sich Joseph. Der kleine Russe entkorkte den Schraubverschluss der Halbliterflasche mit den Zähnen und nahm einen langen Schluck von dem Wodka. Dann wischte er sich genussvoll mit dem Handrücken über den Mund und ließ mit einer fließenden Bewegung die Flasche in die Tasche seines weißen Kittels gleiten. „Du darfst ja keinen Alkohol trinken, so gesund bist du noch nicht, oder hab ich da was verpasst?“ Joseph war sprachlos, seinem Mund entwich lediglich ein halblautes „Pälzer Krippel“. Iwan tat verwundert, mit gespieltem Ernst korrigierte er seinen Patienten in dem er trocken erwiderte „Du bist der Krüppel, ich doch nicht, guck dich doch mal im Spiegel an, du Grufti“. Das genügte und die beiden Männer lagen sich brüllend vor Lachen in den Armen, klopften sich auf die Schulter, wobei Iwan`s Schläge etwas drastischer ausfielen, als die von Joseph.
Langsam ging Joseph durch die Fußgängerzone in der Bismarckstraße bis zur Stadtbibliothek. Mit seinem ihm eigenen Rhythmus setzte er seine Schritte. Nicht schnell aber auch nicht langsam, so ging er bis zur Kaiser-Wilhelmstraße und schlug die Richtung zum Pfalzbau ein. Hier spazierte er am liebsten, fast täglich kam er auf seinem Rundgang vorbei. Das Wilhelm-Hack-Museum mit dem großen Kunstwerk von Joan Miro an der Außenwand liebte er besonders. Für Joseph, der hier beim Betrachten gern ein paar Minuten verweilte, war dies der schönste Platz von Ludwigshafen. Schade nur, dass es so wenige davon in der Stadt gab. Weiter ging er die wenigen Schritte bis zum angrenzenden Museumsgarten. Auch hier blieb er stehen, fast wehmütig ließ er seine Blicke schweifen.
Abrupt riss er sich aus seiner Melancholie los. So schnell er konnte tippelte er los, zurück in seine Wohnung am Danziger Platz. Es war nicht weit von hier, den Gehweg am Arbeitsamt mit der gelblich grünen Fassade entlang und schon war er da. Das Plakat der Pfälzer Staatsphilharmonie mit dem neuen Spielplan ließ er unbeachtet. Endlich war er da, nun hatte er es eilig, weg zu kommen.
Joseph wohnte ganz oben im Haus mit freiem Blick bis zum Großkraftwerk Mannheim, dessen rauchende Schornsteine er weit hinten am Horizont von seinem Balkon aus sehen konnte. Gut, dass es in der Wohnanlage einen Fahrstuhl gab. Bis hinauf in den fünften Stock, das wäre in seinem Gesundheitszustand mühselig gewesen. Kaum zu schaffen. Ein solcher Kraftakt hätte gefühlt mehrere Stunden gedauert. Von den Schmerzen im Anschluss an diese Tortur ganz abgesehen.
Das Gepäck stand im Flur bereit. Ein letztes Mal vor seiner Abreise ging er durch die Räume der Wohnung, kontrolliert, ob er auch nichts vergessen hat. Der Hausmeister weiß Bescheid, hatte einen Schlüssel für alle Fälle. Von draußen hörte er Sirenen. Früher war ihm das nicht so bewusst gewesen, wie oft in einer Großstadt irgendwo ein Notfall die Einsatzkräfte alarmierte. Er ging zum Balkon, neugierig zu sehen, was da los war. Die Sirenen wurden lauter, das prägnante Geräusch kam näher. Und da waren sie auch schon, der erste Wagen der Berufsfeuerwehr bog von der Heinigstraße kommend in die Bahnhofstraße ein. Dicht gefolgt von dem zweiten Fahrzeug mit der großen Drehleiter.
Direkt unter ihm verfolgt er die rot lackierten Autos der Feuerwehr auf ihrem Weg Richtung Innenstadt. Joseph beobachtet von seinem Standort aus gebannt die Situation. Die Ampel an der Kreuzung Berliner Straße zeigt noch rot. Doch das Haltesignal durften die Männer im Einsatz, zwar auf eigenes Risiko, ignorieren. Der Lärm der lauten Sirenen ging durch Mark und Bein. Da fing sogar ein auf beiden Ohren Tauber wieder zu hören an.
Nun ist es soweit. Alle Vorbereitungen sind getroffen. Die Koffer standen gepackt an der Wohnungstür. Joseph hadert mit sich, so eine Schnapsidee mit der Auszeit, dem Neuanfang, das hat er sich durch sein dummes Geschwätz selbst eingebrockt. Nach seinem mehrwöchigen Klinikaufenthalt, da war er einfach groggy, die Medikamente gegen die starken Schmerzen hatten ihn meschugge gemacht. Anders konnte er sich das aus heutiger Sicht nicht mehr erklären. Als die Ärzte damit anfingen, über Reha und Therapie zu reden, da konnte er es einfach nicht mehr ertragen, wie so über ihn hinweg über sein künftiges Leben entschieden wurde.
Da wollte er einfach seine Ruhe haben, er würde schon alleine klar kommen, da brauchte er doch keine Hilfe von außen. Was konnten die Seelenklempner denn für ihn tun. Nichts als hirnloses Gerede, sonst war da doch nichts dahinter bei diesen Allesverstehern. Nein danke, vielen Dank für das Gespräch. Seine Stimmung war auf ein Allzeittief gerutscht. Da ist es dann passiert, er sprach davon, er wolle einen Ortswechsel, andere Menschen sehen, in Ruhe gesund werden, unbelastet von seiner bisherigen Umgebung, die so viele dunkle Erinnerungen in ihm wachrufe.
Irgendwie kam das bei seinen Ärzten gut an. Das hatte er nicht erwartet. Sie waren hoch erfreut über seinen neuerwachten Lebensmut, bohrten immer weiter nach und so kam es, dass er sich selbst um Kopf und Kragen redete. Jetzt kam er aus dieser Nummer nicht mehr ohne Schaden heraus. Die ganze Sache gewann eine Eigendynamik, die zuerst ein tolles Gefühl vermittelte, aber mit der Zeit wurde die Schlinge um seinen Hals immer enger, es gab kein Entrinnen. Immer tiefer rutschte in den Schlamassel. Sie fragten, wo er denn sein neues Leben starten wolle. Da gab es nicht viel zu überlegen, ganz einfach deshalb, weil er keine Ahnung hatte und auch in dieser Hinsicht noch keinerlei Gedanken verschwendet hatte. Die Frage überraschte ihn und so gab es spontan bekannt, es würde nach Wittlich fahren, die Vorbereitungen seien schon in Gange. Gesagt war das schnell, jetzt musste er dafür büßen. Die kleine Stadt in der Eifel war ihm in den Sinn gekommen, weil er früher in der kurzen Zeit seiner Ehe öfter in diese Gegend gefahren war. Seine Ex-Frau stammte von dort, irgend so ein kleines Kaff. Der Name war ihm spontan nicht mehr eingefallen.
Читать дальше