„Weihnachten ist ein Symbol“, sagte er. „Und dieses christliche Symbol ist gestorben. Man kann es nicht mehr auferwecken. Es ist verbraucht, vernutzt, tot.“
„Ich habe da noch meine Hoffnung“, habe ich dagegengehalten. „Die Kirche müsste nur ein kritischeres Problembewusstsein haben.“
„Mache dir nichts vor, Klaus. Weihnachten ist uns abhandengekommen.“
„Oder du ihm?“
„Ja“, sagt er nach einer Pause, „oder ich ihm. Aber da ist kein Verlustschmerz.“
Wir schwiegen und fühlten uns trotz der Differenz unsrer Empfindungen ganz miteinander verbunden.
„Und das mit der Wintersonnenwende ist doch auch kein Grund mehr, Weihnachten zu feiern“, hatte er noch einmal das Wort ergriffen. „Dieses Ereignis der Natur war einmal von eminenter Bedeutung. Aber heute?“
Wieder musste ich ihm Recht geben. Ich kann auch nicht sehen, dass in unsrer lichtüberfluteten Zeit, in der die Nacht zum Tage gemacht wird und man vor lauter Lichtverschmutzung keine Sterne mehr sehen kann, die Sonnenwende eine entscheidende Rolle spielt. Unsere Entfernung von der Natur ist heute so weit gediehen, dass der jährliche Lauf der Sonne und damit der Wechsel der Jahreszeiten unser Leben weniger bestimmt als der Wechsel von Arbeit und Urlaub.
Was ist uns noch dieses Fest in diesen Dezembertagen wert?
Ich spüre den Druck dieser Frage und leide daran, dass die Mehrheit meiner Zeitgenossen sich diese Frage gar nicht stellt.
Vielleicht tun es am ehesten noch diejenigen, die versuchen, sich wegzuducken, diesen Tagen zu entkommen, irgendwohin. Da fährt einer los. Von den Malediven verspricht er sich Sonne, Wärme, Strand, Palmen, Erholung und vor allem Vergessen. Im Foyer seines Hotels begrüßt ihn ein Weihnachtsmann mit einem Weihnachtsengel an seiner Seite, der ihm eine Spekulatiusschachtel als Geschenk überreicht. „Merry Christmas“ sagen beide und ziehen ihn für ein Erinnerungsfoto zum Weihnachtsbaum, der neben dem Tresen steht.
Auf den Punkt gebracht: Weihnachten ist ein Gräuel.
Der nicht muslimische Weihnachtsbaum
Von einem schlechten Gewissen zu sprechen, wäre wohl falsch. Dazu gab es auch keinen Grund. Wir sind schließlich immer offen und ehrlich miteinander umgegangen. Aber ganz wohl muss sich der Kitaleiter in seiner Haut nicht gefühlt haben, nachdem er mich wieder ausgeladen hatte. Zumal er mit diesem Schritt einer in seinem Erzieherteam schon vorher aufgebrochenen Diskussion über Weihnachten neuen Zündstoff gegeben hatte. Sie lief kontrovers hin und her, ohne klare Positionen aufzuweisen. Dies und das wurde behauptet und gefordert und keiner, auch der Leiter nicht, wusste wirklich, wo es lang gehen sollte.
Dass es Schwierigkeiten gab, ahnte ich. Diese Ahnung wurde bestätigt, als mich der Leiter der Kindertagesstätte anrief und zum Kita-Schnack einlud. „Ein bisschen kurz, gleich morgen, am Freitag, aber ich hoffe, du kannst kommen.“
Beim Kita-Schnack handelte es sich um eine Runde außerhalb der Dienstzeit, in der man sich ohne Tagesordnung und Protokollzwang austauschen und näherkommen wollte. Wer konnte, brachte etwas zu essen oder zu trinken mit. Ich spendierte eine Stolle. Die Belegschaft war ein buntes Völkchen, das ich mochte. Ihr waren die Kinder wichtig; das gefiel mir.
Ich konnte einen Termin umlegen und ging hin. Am Eingang zur Kita traf ich einen Mitarbeiter, der gerade einen Adventskranz an der Decke befestigt hatte.
„Ist er runtergefallen?“, fragte ich.
„Nee … öh … nein, ich habe ihn eben erst angebracht.“
„Sonntag ist doch schon der zweite Advent. Ein bisschen spät – oder?“
Meine Frage klang nicht tadelnd, sondern interessiert. Ich bekam aber nur eine ausweichende Antwort.
„Naja, lohnt doch noch.“
In der Runde mit der Kitabelegschaft erfuhr ich dann, dass im Eingangsbereich ein Weihnachtsbaum gestanden hatte, den Kinder mit Engeln, Strohsternen und selbst gebastelten Figuren, kleinen Bildchen und Wollkugeln geschmückt hatten. An der Spitze war ein goldener Stern mit einer Bleifassung und goldgelben Glasfenstern angebracht, der beleuchtet war.
„Den Baum haben wir jetzt durch den Adventskranz ersetzt.“
„Und warum?“
Etwas zögerlich kam die Antwort. „Weil es Ärger gab. Mit einem muslimischen Vater. Der meinte, dass die religiösen Gefühle seiner zwei Kinder in der Kita durch dieses christliche Symbol verletzt würden.“
„Und der Adventskranz tut das nicht?“, fragte ich.
„Der ist neutral. Wenn der Vater auch gegen den was haben sollte, dann bleiben wir hart. Das haben wir uns alle vorgenommen. Er muss ja auch unsre Traditionen respektieren, wenn sie nicht diffamierend wirken.“ Der Leiter schaute in die Runde. Alle nickten.
„Der Weihnachtsbaum wirkt diffamierend?“
Meine Frage klang erstaunt.
„Naja, nicht direkt, aber er ist eben ein christliches Symbol, so wie das Kreuz zum Beispiel auch. Oder wie auf der anderen Seite das Kopftuch.“
„Hm.“ Ich war irritiert. Endlich sagte ich: „Ich möchte dazu etwas klarstellen. Aber vorher habe ich noch eine Frage an euch. Was ist euch das Wichtigste an Weihnachten? Was ist euch so wichtig, dass es für euch nicht richtig Weihnachten wäre, wenn es fehlen würde?“
„Jetzt willst du hören, dass Jesus geboren wurde“, sagte ein junger Erzieher. Seine Bemerkung klang beherrscht und zugleich aggressiv. Erst vor Kurzem hatten wir ihn nach langen Diskussionen im Gemeindekirchenrat und im Kreiskirchenrat und mit Sondergenehmigung des Konsistoriums eingestellt. Er hatte von seinen Eltern her zu einer fundamentalistisch ausgerichteten evangelischen Freikirche gehört. Aus der war er gerade ausgetreten, wie er uns offen bei seiner Bewerbung mitgeteilt hatte. „So ’n Quatsch kann und will ich nicht mehr glauben.“
Nun gehörte er keiner christlichen Kirche an, womit er die geltenden Anstellungsvoraussetzungen nicht mehr erfüllte.
„Ich will eure Meinung hören, nicht die, die ihr für meine haltet.“
Ich gab mir Mühe, dass meine Antwort nicht ärgerlich klang.
Eine Frau sagte, dass ihr das mit Jesu Geburt schon wichtig sei, auch wenn es vielleicht nicht genau der 24. Dezember war.
Fast alle nannten die Geschenke, vor allem die an die Kinder, den Weihnachtsmann, den Weihnachtsbaum und ein harmonisches Zusammensein im Familienkreis und auch Kollegenkreis als wesentlichen Bestandteil des Weihnachtsfestes.
„Das alles hat ja mit Kirche eigentlich nichts zu tun“, fasste der Leiter zusammen. „Im Grunde kann da doch keiner wirklich was dagegen haben.“
„Aber einer hatte was dagegen!“ Ich schaute den Leiter an. „Und ihr habt gleich nachgegeben.“
„Nun, gut, wir wollten tolerant sein. Wir wollten ihn nicht verletzen. Im Übrigen haben wir abgestimmt.“
Dem Leiter war nicht wohl bei der Sache. Das sah man ihm an. Eine ältere Erzieherin versuchte, die beklemmende Situation zu verändern.
„Ich finde, zu Weihnachten muss auch gesungen werden. Überhaupt Musik, Blockflöten und so …“ Ich sah sie interessiert an.
„Und die Kinder sollen auch etwas aufsagen oder wenigstens vorlesen.“
„Sagte sie das meinetwegen?“, fragte ich mich.
„Es muss ja nicht unbedingt etwas aus der Bibel sein“, fügte sie noch hinzu. Mir war klar: Das sagte sie wegen ihrer Kollegen.
Am Ende der Diskussion kam noch jemand mit der Wintersonnenwende. „Die sollte vielleicht auch in den Mittelpunkt gerückt werden.“
„Würde dir ohne die Sonnenwende zu Weihnachten was fehlen?“, fragte ich nach.
„Nicht unbedingt“, gab er zu.
„Nun, ich will einiges klarstellen“, sagte ich. „Erstens: Der Weihnachtsbaum ist kein christliches Symbol. Im Gegenteil, in der Kirche wetterte man eine Zeit lang gegen den heidnischen Brauch, geschmückte Weihnachtsbäume aufzustellen, wie es die reichen Bürger in ihren Wohnungen taten. Den Adventskranz könnte man schon eher als Symbol des christlichen Glaubens verstehen, denn der Theologe und Erzieher Johann Hinrich Wichern war auf die Idee gekommen, ein ausgedientes Wagenrad mit kleinen Kerzen – für jeden Adventstag eine – und mit vier großen Kerzen, zusätzlich für die Adventssonntage, zu schmücken. Ich meine, es war so um 1840. Später kamen Tannenzweige dazu. Wichern hatte, wie ihr wisst, verarmte Kinder um sich gesammelt, mir denen er im „Rauhen Haus“ in Hamburg zusammenlebte. Jetzt konnten sich die Kinder selber ausrechnen, wann endlich Weihnachten ist, nämlich dann, wenn alle Kerzen brennen. Und warum Kerzen? Weil Gott mit Jesu Geburt Licht in die Welt gebracht hat. So hatte Johann Hinrich Wichern sich das gedacht. Von wegen, der Kranz ist neutraler als der Baum. Es ist genau umgekehrt, als ihr meint.
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