Und dieser Körper, dieser junge sehnige Körper – weißhäutig und mit seidenweichen schwarzen Haaren am Brustansatz und in einer Linie vom Bauchnabel bis in den Schoß.
Als Sophie selbstverloren zu den Klängen der Salsaband tanzte, die an jenem Abend beim Sommerfest spielte, war er plötzlich da. Er bewegte sich erst in ihrem Rhythmus, um sie bald engumschlungen in einen langsamen, sinnlichen Tanz zu entführen. Sophie konnte nicht anders, als alles um sich zu vergessen und sich fallen zu lassen in den Sog der Leidenschaft.
Es würde eine kurze Episode sein, da war sie sich sicher. Schließlich war er fast 20 Jahre jünger als sie, hätte ihr Sohn sein können. War er aber nicht. Sophie hatte keine Kinder und wollte auch nie welche. Ihre Kinder waren ihre Bilder, ihre Kunst und die Kinder und Erwachsenen, die sie in Malkursen unterrichtete.
So nahm die Romanze ihren Lauf und Sophie ließ es geschehen.
Woher die Traurigkeit käme in seinen Augen, wollte sie wissen, und diese kleinen Narben auf seinem Gesicht.
Er begann zu erzählen, zurückhaltend, Stück für Stück und ihr wurde mehr und mehr klar, dass die Ursache dieser kleinen Narben viel tiefere Narben in seine Seele gebrannt hatte. Als er sie seine Verletztheit spüren ließ, begann sie ihn zu lieben.
Nein, das hatte sie nicht gewollt, das war nicht geplant! „Just for fun“ wollte sie ihn, aber ihr Herz machte einen Strich durch die Rechnung. Dieses dumme, weiche Herz hatte jegliche Gedanken an Flucht boykottiert. Nach 20 Ehejahren, die alles andere als einfach waren, wollte sie nie mehr zulassen, dass ein Mann ihre Schutzzone, die sie um ihr Herz gezogen hatte, überschritt. Das Leben atmen, den Augenblick genießen und das Glück pflücken, wenn es erblüht – das war ihr Lebensmotto.
Shahin wusste sein Herz zu schützen. Es war eingesperrt in eiserne Ketten, umgeben von Stahl, seit jenem Tag, der ihm das Herz brach und seinen Lebenstraum zerstörte. 18 Lenze zählte er damals und die Hochzeit mit seiner großen Liebe stand bevor. Sie hieß Selina und war wie er halb sizilianisch, halb kurdisch. Ein Anruf machte auf einen Schlag alle Pläne und Träume zunichte. Selina war bei einem Autounfall tödlich verunglückt.
Mit seinem Zwillingsbruder fuhr er sofort los zur Familie seiner Braut. Auf der Fahrt stieß er frontal mit einem LKW zusammen, der plötzlich die Fahrbahn wechselte und auf ihn zufuhr. Er überlebte schwer verletzt und lag wochenlang im Koma, monatelang im Krankenhaus. Sein Zwillingsbruder war sofort tot. Später erfuhr er, dass es kein Unfall sondern ein Mordanschlag war, der ihm gegolten hatte. Eigentlich sollte Shahin sterben, weil er wie sein geliebter Onkel, der einige Wochen zuvor von Saddams Miliz erschossen wurde, einer kurdischen Widerstandsbewegung – den Peschmerga - angehörte. Peschmerga bedeutet übersetzt „Die dem Tod ins Auge Sehenden“ und dieser Kampf forderte offensichtlich auch tagtäglich sein Tribut. Den Giftgasangriff in Halabdscha hatten er und seine Familie überlebt, weil sie rechtzeitig in die Berge geflohen sind.
Und nun hatte er auch diesen schrecklichen Anschlag überlebt, jedoch nicht sein Bruder. Damals schwor er, niemals seinen Geburtstag zu feiern, denn er sei nur noch halb am Leben – er fühlte sich mit schuldig am Tod seines Bruders.
Seine Mutter leitete umgehend seine Flucht aus dem Irak in die Wege, nachdem er sich erholt hatte. Sie wollte nicht auch noch den zweiten Sohn aus ihrer ersten Ehe verlieren. Shahin´s Vater war ihre große Liebe. Sie hatten in Sizilien geheiratet. Auch er kam bei einem Autounfall ums Leben, als seine Zwillinge 3 Jahre alt waren. Verzweifelt und voller Trauer ging sie als Witwe mit ihren beiden Kindern nach Irak zurück zu ihrer Familie und heiratete erst viele Jahre später noch einmal.
Shahin´s abenteuerliche Flucht über Türkei und Griechenland war ebenfalls mit vielen Gefahren und Entbehrungen verbunden. Einige seiner Weggefährten überlebten die Strapazen nicht.
In Deutschland lebte er zum Zeitpunkt der Begegnung mit Sophie seit 5 Jahren. Da er als Asylant nicht mehr in den Irak reisen durfte, hatte seine Familie seit seiner Flucht nicht mehr gesehen. Einige seiner Geschwister kennt er nur von Bildern. Irgendwann würde er zurückgehen und seine Familie in die Arme schließen – irgendwann, wenn es wieder Frieden und Sicherheit gibt in Kurdistan.
Tief berührt von seinen Erlebnissen fühlte sich Sophie immer mehr zu ihm hingezogen. Sie wollte die Leichtigkeit in sein Leben bringen, die er nie hatte, was ihr auch immer öfter gelang. Für Shahin war Sophie seine Geliebte, seine Vertraute, seine Freundin, seine Familie – einfach alles.
Sie wusste das und so willigte sie schließlich nach langem Zögern ein, ihn zu heiraten und ihm in ihrem Leben eine Heimat zu geben, obwohl sie sicher war, dass diese Liebe nicht ewig halten wird. Und doch sind aus dem Sommer mit Shahin mittlerweile 4 Jahre geworden – Jahre der Ausgewogenheit und Harmonie ohne viele Höhen und Tiefen.
III. Rückblick
Angst
War ein hilfloses Kind
Kraftlos und klein
Lernte nie, wie man schwimmt
Nie, oben zu sein
Hatte Angst vor der Tiefe
Und geriet in den Strom
Wäre beinahe ertrunken
Kam noch gerade davon
Ich fühl die Seele, sie bricht
Es blutet das Herz
Bin auf der Suche nach Licht
Nie mehr lächeln im Schmerz
Sophie kann sich kaum erinnern an ihre Kindheit. Warum? Was ist passiert, dass das Alarmsystem ihres Unterbewusstseins den Vergessen-Modus gewählt hat? War es so unwichtig oder so schwerwiegend? Wie auch immer, Kindheitserinnerungen tauchen nur in Bruchstücken auf, in kleinen unzusammenhängenden Sequenzen.
Sie sieht sich spielen mit anderen Kindern, kaum mit Mädchen sondern fast nur mit Jungs – ihre Mutter hatte sie immer als „halben Jungen“ und „Wildfang“ bezeichnet. Sie spielten am Wildbach, in Höhlen, Wäldern, kletterten auf Bäume … diese Erinnerungen mochte sie sehr.
Andere Sequenzen waren nicht so hell und fröhlich. Wenn sie sich unter dem Esstisch kauern sieht und sich die Ohren zuhält, damit sie den betrunkenen Vater nicht hört, der um sich schlägt.
Oder auch das beklemmende Gefühl das sie hat als junges pubertierendes Mädchen, wenn sie mit ihrem Vater alleine ist. Sie weiß, dass sie sich dann immer verstecken muss, um seinen Anzüglichkeiten zu entgehen.
Musste sie wirklich alles wissen über ihre Kindheit? Früh schon lernte sie sich zu schützen und zurückzuziehen. Sie liebte das Alleinsein mit sich und der heilen Welt, die ihre Phantasie erschuf. Sie war der Sonnenschein und der stabile Pol in der Familie – mit einer liebevollen, aber nervlich labilen Mutter, einem alkoholkranken Vater und einer behinderten Schwester, die einen Teil ihres Lebens im Heim verbrachte.
Früher hatte sie versucht, das Vergessene aufzudecken und die Geheimnisse der Kindheit zu lüften. Irgendwann aber erkannte sie, dass die Vergangenheit nicht von Bedeutung ist. Nichts würde sich ändern für sie. Was auch immer passiert ist, es hat sie zu der Frau gemacht, die sie jetzt ist und sie ist mit sich selbst durchaus zufrieden und glücklich.
Bunt ist ihr Leben, farbenfroh wie ihre Bilder. Nicht eintönig und grau wie das von vielen Frauen in ihrem Alter, die eigentlich schon aufgehört haben zu leben. Nein, das kann ihr nicht passieren – sie wird das Leben auskosten bis zum letzten Atemzug! Jeden neuen Geschmack wird sie auf der Zunge zergehen lassen und kosten, jede Farbe in sich aufsaugen, sich keinen Genuss versagen, solange es niemand schadet. Da hält sie es mit Ernest Hemmingway´s Zitat „Versuchungen sollte man nachgeben – man weiß nicht ob sie wiederkommen!“
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