Manfred Rebele - strange!

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Die Erfahrung des Fremden beim Reisen: auf den ersten Blick unverständliche alte Kulturen, für deren Verständnis wissenschaftliche Quellen herangezogen werden. Das traurige Schicksal indigener Völker. Reiseerfahrungen an den Enden der Welt: exotische Landschaften. Geologische Zeitreisen ins Archaikum. Fremde Sitten im Vergleich mit deutscher «Ordnung». Folklore.

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Fremd ist der Fremde nur in der Fremde

(Karl Valentin)

Strange!

In Patagonien

Finis Terrae.Feuerland

Subjektivität am Ende der Welt

Feuerlandindianer oder: Christliche Fernstenliebe am Ende der Welt

Die Alacaluf-Madonna

Die Jesuiten-Reduktionen

Präkolumbianische Kulturen Südamerikas

Die Inka

Die Kosmologie der Inka

Choquequirao

Die Chimu

Die Moche

Die Chavin-Kultur

Die Gegenwart der Ahnen

Die Indianer Nordamerikas

Lost in Capitalism: Australiens Aborigines

Eine australische Zeitreise

Vulkanlandschaften

Reisen in der Mongolei

Indiens Dreck

Verkehr

Moralisches Wertgesetz

Folklore

Vorwort

Als ich mit Rucksack über Teneriffa wanderte, im Freien schlafend, mit karg bemessenem Budget in einfachen Dorfkneipen oder aus meinem Blechnapf essend, sah ich beim Abstieg aus den Bergen im Norden ein isoliert dort am Meer liegendes Hotel. Eine ältere deutsche Dame, Hotelgast, mit der ich auf dem Camino ins Gespräch kam, ermöglichte mir– aus Solidarität der Allgäuerin zu einem Allgäuer, aus Mitleid mit dem Clochard und aus Ärger über das Hotel, das Katzen vergiftete, eine Teilnahme am Frühstücksbuffet, das für mich ein bleibendes Erlebnis wurde. So sehr ich es genoss, nach langer Zeit wieder deutsche Wurst und deutsches Müsli zu schmecken, so irreal kam mir das Hotel vor: ein nach Teneriffa verlängertes Deutschland mit Sonnengarantie und Palmen, eine künstliche Insel. Seitdem ist mir dieses Hotel ein Sinnbild für eine Art des Reisens, die ohne Neugier auf das fremde Land sich von der Andersartigkeit nicht groß beunruhigen lassen will. Und bis heute steht für mich fest, dass man auf diese Weise etwas verpasst.

Das Fremde, Exotische, Ausgefallene, Unvertraute kennenzulernen und zu erleben, auch dies kann durchaus den Reiz des Reisens ausmachen, und davon handelt dieses Buch. In der Form eines Mosaiks werden Reiseerlebnisse, -beobachtungen und -reflexionen ausgebreitet, auch wissenschaftliche Erklärungen für das auf den ersten Blick so Fremdartige. Natürlich sind es vor allem andere Kulturen, die auf einen Europäer fremdartig wirken; aber auch Landschaften können dieses Gefühle erzeugen.

Die Faszination des Fremden, dem dieses Buch gewidmet ist, ist freilich nur die eine Seite der Medaille. Nicht verschwiegen werden soll die andere, manchmal unangenehme, manchmal nervende, manchmal beängstigende Seite. Von der Aufdringlichkeit selbsternannter Führern in Marokko weiß fast jeder Reisende zu berichten. Am Ende ist er so weit, jede Kontaktaufnahme eines Marokkaners als Anbahnung eines Geschäfts zu beargwöhnen ( meist zu Recht) und sich abweisend zu verhalten. Man bedauert auf der einen Seite, dass ein unbefangenes Miteinander-ins- Gespräch-kommen so nicht möglich ist; auf der anderen Seite sieht man auch nicht ein, dass jede Freundlichkeit als „do ut des“ zu verstehen und mit einem Preiszettel versehen ist. Andere Länder, andere Sitten – aber man muss nicht alle gut finden. Zu Hause, beim Betrachten der Reisebilder, sind die unangenehmen Seiten des Fremden schnell vergessen und der Reiz des Exotischen setzt sich als überwiegender Eindruck fest. Unter den eher unangenehmen Erlebnissen gibt es welche, auf die man gleichwohl nicht verzichten möchte, weil sie so eindrücklich und charakteristisch für das bereiste Land sind; aber auch Situationen, auf die man gerne verzichtet hätte. Dazu zählen etwa die Erfahrungen mit Hafenbehörden in Südamerika, wo man sich fühlt wie in einem Roman Kafkas: eine Behörde entscheidet nach völlig undurchsichtigen Regeln, man wartet vor Türen, wird von Pontius nach Pilatus geschickt und wieder zurück, fühlt sich irgendwie ausgeliefert.

Und trotzdem macht man sich dann wieder auf in die Ferne und Fremde: VIAJAR ES VIVIR – REISEN IST LEBEN.

In Patagonien

Beruhige dich, mein Herz, du kannst ja doch nichts anderes machen als warten. Der Freund ist weggetrampt, um Mechanikerhilfe zu holen. Er wird wiederkommen, also beruhige dich. Einen Tag hatten wir gewartet, gewartet in der Einsamkeit, bis ein Auto kam. Stunde um Stunde schauten wir das lange Band der Schotterpiste entlang in die Unendlichkeit und dann, nach einem halben Tag, einer Nacht schlechten Schlafs und einem weiteren halben Tag ungeduldigen Ausschauhaltens zeigte sich weit in der Ferne eine Staubfahne, die waagerecht vom Wind weggetragen wurde, immer größer wurde, ein Auto entließ, das schließlich bei uns hielt und den Freund entführte nach Perito Moreno, mich zurücklassend bei unserem Wagen, der hier auf der Ruta 40 zusammengebrochen war. Nun fährt er die Strecke zurück durch die Halbwüste der grau-grünen Sträucher und der Büschel aus Pampagras, zurück in jenes Kaff nahe dem Lago Argentino, in dem die Farmer der weiteren Umgebung einkaufen. Dort hatten wir Proviant gebunkert für unsere Expedition. Wie hatten wir gemosert über das dürftige und wenig frische Angebot! Ach – nun, da ich hier gestrandet sitze, am Straßenrand im Irgendwo der endlosen Ebenen erscheint mir jenes staubige Kaff mit seinen kümmerlichen Bäumchen entlang der Hauptsstraße wie ein Leuchtturm der Zivilisation.

Dorthin eilt er nun zurück, über laut aufschreiende Viehgitter, wo die Straße die Weidezäune durchstößt. Die Füchse, die hier an Autoreifen gekreuzigt sind, rufen ihm ein schauriges „Memento mori!“ hinterher. Vorbei an Bergrücken, in deren Mulden sich eine Hazienda duckt – man sieht sie nicht, denn sie hat sich hinter einem Schutzwall von Pappeln verkrochen, die die schlimmsten Schläge des patagonischen Sturms auf sich nehmen.

Mich aber – ausgesetzt in der Ebene- packt er. Seit Tagen heult er ums Auto, rüttelt an ihm, lässt es zittern, schwanken. Tag und Nacht ist dieses Brausen in der Luft, die Ohren sehnen sich nach einem Moment der Stille – und werden nicht erhört. Noch in den Schlaf verfolgt mich das Geheul der Erynnien.

Das Auge sieht von alledem nichts. kein Baum biegt sich mit fahrigen Ästen. Knorrige Sträucher mit Hartlaub stehen still, als ob sie das Toben der Luft nichts anginge, nur einige Blättchen zittern etwas. Nicht anders das Pampagras, das hier in sehr kurzen Büscheln wächst, gekämmt hingeduckt; kleine Bewegungen der überaus zähen Halme sind ihr einziges Zugeständnis an die Macht des Windes. Die Sinne sind verwirrt: Die erdrückende Gegenwärtigkeit des Windes, für den die gemarterten Ohren zeugen, erscheint den Augen als Trug. Aber nur solange, wie man den Wind im Auto, abgeschirmt, aus der Distanz, sozusagen theoretisch betrachtet. Außerhalb der Wagenburg prügelt er auf alle Sinne gleichzeitig ein: die Augen werden trocken, die Haut kalt, Haare und Hose flattern.

Bruce Chatwin berichtet, er sei hier im patagonischen Sturm gewandert. Gewöhnt man sich so eher an die Elemente?

Woher hatte er sein Wasser? Es gibt keine Bäche, nur ganz wenige Flüsse, die das milchig-grüne Wasser der Gletscherseen zum Atlantik führen. Es regnet kaum. Der Fallwind, der die Anden herabfegt, bringt Wolken mit, die mit tief hängenden grau-blauen Schleiern über das Land jagen. Bevor sie dem durstigen Boden mehr als ein paar Tropfen gönnen, haben sie sich auch schon aufgelöst.

Und wie hat er die Unendlichkeit der Straße ertragen? Mit dem Auto fuhren wir Ewigkeiten immer geradeaus auf einen langgezogenen Bergrücken zu, Ewigkeiten an ihm entlang, der nur langsam seine Gestalt änderte. Wer hier entlang wanderte, dem räumte die leere Unendlichkeit die Seele aus – und doch verhinderte diese Halbwüste jede meditative Versenkung, die anderswo Religionsstifter hervorgebracht haben soll; denn hier fehlt: die Stille. Hier zu gehen, zu stehen, einfach nur zu sein erfordert eine ständige Anstrengung der Selbstbehauptung gegen den unablässig angreifenden Wind.

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