»Die Polizei hilft, wo sie nur immer kann – das sollten Sie wissen«, entgegnete sie ruhig. »Aber ich gebe zu, daß dies eine rein persönliche Angelegenheit ist. Sie sind ein Teil eines großen Experimentes, das ich mache. Es ist nicht mein Frauenherz, sondern mein wissenschaftlich geschulter Verstand, der mir diese Handlungsweise vorschreibt.« Plötzlich änderte sie das Thema. »Ich wünschte nur, Mr. Dawlish, Sie würden sich rasieren lassen, Sie sehen zu sehr nach einem musikalischen Genie aus. Es kleidet Sie wirklich nicht.«
Er mußte immer noch vor sich hinlachen, als Lucretia die Haustür mit unnötiger Heftigkeit hinter ihm schloß.
Er kannte ein kleines Hotel, wo er diese Nacht verbringen konnte. Es lag in Lambeth, ganz in der Nähe des Waterloo-Bahnhofes.
Er ging mit schnellen Schritten die Charing Cross Road hinunter und kam dann auf den ›Strand‹, der zu dieser Stunde noch von Autos belebt war, denn die Theater schlössen gerade. Plötzlich glaubte er, seine Mutter in eine Limousine einsteigen zu sehen. Eine zweite Dame folgte ihr. Ja, das war Margaret Dawlish, und die Dame mit den grauen Haaren war Tante Anita. Er konnte jetzt verächtlich über sie lächeln, und die Gewissheit, daß er das konnte, erfüllte ihn mit Genugtuung. Wären sie ihm früher an diesem Abend begegnet, so hätte er sich verhöhnt gefühlt und hätte sich selbst bemitleidet. Und er war doch fest entschlossen, gegen solche Gemütsstimmungen tapfer anzukämpfen.
Er wandte sich ab, damit sie ihn beim Vorüberfahren nicht erkennen sollten, und ging die Villiers Street hinunter. Dann stieg er die Stufen zu der Hungerford-Brücke hinauf. Es waren nicht die zwanzig Pfund in seiner Tasche, die ihn fröhlicher stimmten und seine Schritte beflügelten, es war etwas von dem energischen Charakter Leslie Maughans auf ihn übergegangen, etwas von ihrem Lebensmut und ihrem gesunden Selbstgefühl war auch in ihm erwacht.
Sie fesselte ihn. Sie war mehr als schön im gewöhnlichen Sinne. Aus ihren Zügen sprach eine natürliche Klugheit, die er noch niemals in dem Gesicht einer anderen Frau entdeckt hatte. Es kam ihm plötzlich zum Bewusstsein, daß ihm kluge Frauen immer mißfallen hatten. Er liebte Frauen, die einen sanften, weiblichen Charakter hatten und nicht zu gescheit waren. Aber dieses begabte und hübsche Mädchen faszinierte ihn.
Leslie Maughan besaß genügend Autorität, um ihn stets in der nötigen Distanz zu halten, und doch war sie so außerordentlich freundlich und liebenswürdig gegen ihn, so gütig wie eine vernünftige ältere Schwester, obwohl sie in Wirklichkeit mehrere Jahre jünger als er sein mußte. Manchmal war er sich schon wie ein alter Mann vorgekommen – aber nach dieser Begegnung mit Leslie Maughan fühlte er sich so fröhlich wie ein Kind.
Er war jetzt auf der Mitte der Brücke angekommen, und die ganze Schönheit des Ufers breitete sich vor ihm aus. Eine Unzahl von Lichtern spiegelte sich in den schwarzdunklen Wassern der Themse. Auf der Südseite war ein Turm mit prachtvoller Lichtreklame geschmückt. Peter war heiter und zufrieden, als er all diesen Glanz in sich aufnahm. Aber plötzlich überkam ihn ein sonderbar unheimliches Gefühl, das er sich selbst nicht erklären konnte. Instinktiv drehte er sich um. Es gingen viele Menschen über die Brücke; unmittelbar hinter ihm her, kaum zehn Schritte entfernt, kamen drei kleine Leute, die sich Schulter an Schulter nebeneinander bewegten. Sie machten die merkwürdig hohen Schritte, die Peter schon früher an Orientalen bemerkt hatte – es war fast ein gewisses Stolzieren. Sie sprachen nicht miteinander, wie es Freunde gewöhnlich tun, die zusammen nach Hause gehen, und dieses Schweigen war es, das Peter so beunruhigte. Jahrelanger Gefängnisaufenthalt war gerade keine Nervenkur für einen Mann von Peter Dawlishs Temperament.
Er eilte die Stufen auf der anderen Seite hinunter und befand sich in einer wenig erleuchteten, düsteren Straße. Von hier führte ein kürzerer Weg zur York Road, in deren Nähe das Hotel lag. Er kam durch eine einsame Straße mit kleinen Häusern, die man nicht gerade als Hintergasse, aber auch kaum als anständig bezeichnen konnte.
Als er sich umwandte, sah er, daß die drei Männer ihm noch folgten. Sie bewegten sich geräuschlos wie auf Gummisohlen. Peter ging quer über die Straße, und sie kamen etwas näher an ihn heran.
Er überlegte sich, ob es nicht besser sei, zurückzugehen und die Leute an sich vorbeizulassen. Gerade hatte er diesen Entschluss gefaßt, als etwas über seinen Kopf fiel. Er hob schnell die Hand, um die dünne Leine aufzufangen, aber es war schon zu spät. Die Schlinge zog sich um seine Kehle zusammen, zwei gewandte kleine Gestalten sprangen auf ihn zu – im nächsten Augenblick lag er auf dem Boden und kämpfte um sein Leben. Er bekam keine Luft mehr, sein Kopf schmerzte, das Blut staute sich in seinem Gehirn. Mit den Händen versuchte er noch krampfhaft, die Schlinge zu lockern, dann wurde er bewußtlos. Nach einer Ewigkeit fühlte er, daß ihn jemand aufhob und gegen eine Mauer lehnte. Ein helles Licht traf sein Gesicht.
Unwillkürlich faßte Peter an seinen Hals. Die Leine war entfernt, aber er konnte noch den tiefen Einschnitt fühlen, den sie hinterlassen hatte.
»Was war denn hier los?« fragte eine raue Stimme.
Peter schaute auf und sah einen Polizisten vor sich stehen.
»Wie fühlen Sie sich jetzt? Soll ich einen Krankenwagen bestellen? Ich kann Sie gleich in ein Hospital bringen.«
Peter zitterte an allen Gliedern, als er sich aufrichtete.
»Es geht ganz gut«, sagte er etwas unsicher. »Wer waren diese Leute?«
»Ich weiß es nicht. Sie kamen am Ende der Straße an mir vorbei. Es waren sonderbare, kleine Männer mit flachen Nasen und fast affenartigen Gesichtern. Und dann sah ich, wie sie hinter Ihnen her waren, und folgte ihnen. Ich glaube, ich habe Ihr Leben gerettet, junger Mann.«
»Ja, Sie haben mich gerettet.« Peter befühlte seine Kehle.
»Gelaufen sind die Kerle! Ich habe noch niemals einen Menschen so schnell rennen sehen. Hatten Sie denn einen Streit mit ihnen?«
»Nein, ich habe sie in meinem Leben noch nicht gesehen.«
»Hm!« Der Beamte schaute ihn etwas verwundert an. »Ich möchte bloß wissen, wer sie waren. Sie sprachen so ein merkwürdiges Kauderwelsch, das ich nicht verstehen konnte. Ich habe nur ein Wort behalten, vielleicht waren es auch zwei – Orang-Pander oder Bander.«
»Orang Blanga?« fragte Peter schnell und pfiff vor sich hin.
»Dann kennen Sie die Leute also doch?«
»Nein, durchaus nicht, ich vermute nur, welcher Nationalität sie sind – es werden Javaner gewesen sein.«
Der Polizeibeamte wollte ihn nicht gern allein lassen.
»Wo wollen Sie jetzt hingehen?«
»Ich will versuchen, noch eine Unterkunft zu finden.«
Er war noch sehr schwach, denn als er den ersten Schritt tat, drehte sich die Straße und der Polizist um ihn, und wenn der Beamte ihn nicht am Arm gepackt hätte, wäre er hingefallen.
»Wenn ich Sie so allein lasse, werden Sie noch aufgegriffen, weil man annimmt, daß Sie zu viel getrunken haben«, meinte der Mann gutmütig. »Sie wollen eine Unterkunft haben? Warten Sie einmal, ich habe doch irgendwo hier in der Nähe einen Zettel hängen sehen, daß ein Zimmer frei ist.«
Er drehte seine elektrische Taschenlampe an, ging langsam die Straße entlang und leuchtete die Fenster ab. Plötzlich blieb er stehen.
»Hier ist ein Zimmer frei, ich wußte es doch.«
Peter ging langsam und vorsichtig zu ihm hin. Das Licht der Lampe fiel auf ein kleines Plakat an einem Fenster.
›Zimmer an einen anständigen jungen Mann zu vergeben.‹
»Wollen Sie sich hier einquartieren?«
Peter nickte, und der Polizist klopfte leise an die Tür. Es dauerte aber einige Zeit, bis ein schwerer Schritt im Gang hörbar wurde.
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