Ich nickte mit Blick auf den Tisch. Es war bereits Nacht und wir saßen schon viele Stunden an den Tischen dieses Gasthofes. Wir hätten an diesem Tag eine viel größere Strecke zurücklegen können, doch solange ich noch nicht entschieden hatte, was ich mit Menard anfangen sollte, wollte ich mich nicht beeilen.
Der alte Mann durfte ruhig mal etwas länger auf seine Schriften warten.
»Was hat er damit vor?«, fragte ich und sah über den Tisch hinweg Derrick an.
Mein alter Freund zuckte verwirrt mit den Achseln.
»Mit der Schriftrolle«, half ich ihm auf die Sprünge. »Was will Menard damit?«
»Um was geht es in der Grabinschrift?« Derrick beugte sich über den Tisch.
Ich holte die Papierrolle hervor und breitete sie auf dem Tisch aus. Es war schlecht zu lesen, aber ich konnte mich noch an die Worte erinnern und las sie vor: »Hier ruht Priester Odilo, der zu den Drachen flüstern konnte, er sprach ›Hroar‹, und sie kamen.«
Derrick sah mich mit verständnislosen Augen an. Für einen Augenblick hatte er den blödesten Gesichtsausdruck den ich bis dorthin gesehen hatte. Jedem anderen hätte ich in dieses leere Gesicht geboxt, aber bei Derrick musste ich mir ein Grinsen verkneifen.
»Hroar?«, fragte Derrick verwirrt.
»Das Brüllen eines Tieres«, vermutete ich.
Derrick runzelte skeptisch seine Stirn.
Die Tochter des Wirts lief an unserem Tisch vorbei und brachte fünf volle Krüge mit schäumendem Met zu meinen Männern. Sehnsüchtig blickte Derrick ihr nach.
»Wenn sie dich reizt, dann nimm sie dir doch«, sagte ich zu ihm, mein Blick war weiterhin auf die Inschrift gerichtet.
Was bedeuteten diese Worte? Würde ich Drachen anlocken, wenn ich in den Himmel brüllte? Unsinn! Es hatte seit Jahrzehnten keine Drachen mehr in Carapuhr gegeben. Aber was wollte Menard mit dieser Information? Es musste ein höherer Sinn dahinterstecken. Menard hatte mich gelehrt, das hinter jedem Wort in einer Abschrift eine zweite Bedeutung innewohnen kann. Nichts ist offensichtlich, hatte er gesagt.
Es beunruhigte mich, das ich nicht wusste, was der Schamane vorhatte. Nach allem, was ich erlebt hatte, konnte ich davon ausgehen, dass diejenigen, die mir am nächsten standen, mich hintergehen würden. Und abgesehen von Derrick, stand mir Menard am nächsten. Ich vertraute ihm nicht, weil er Vertrauen verlangte.
»Ich sah dem Met nach, nicht der Frau«, grinste Derrick.
Als die Tochter unseres unfreiwilligen Gastgebers wieder an uns vorbeilief, hielt ich sie auf.
Erschrocken schnappte sie nach Luft, als ich einfach ihr Handgelenk packte und sie grob auf meinen Schoß zog.
»Dann nehme ich sie«, beschloss ich und rollte die Schriftrolle wieder zusammen.
Die schlanke Frau versuchte sich zu wehren, das arme Ding hatte ja keine Ahnung, dass sie damit das Feuer in meinem Blut erst richtig entfachte. Sie versuchte, mich zu beißen und ich begann zu schnurren wie ein Stubentiger.
Doch bevor es schön werden konnte, platze ein großer, dunkelhaariger Hüne aus der Küche und stampfte auf mich zu.
Belustigt grinste ich ihm entgegen, ich stand nicht einmal auf.
»Lass sie los, du Widerling!«, brüllte er mir entgegen.
Auf halben Weg wurde er von Egid Einauge gerammt und zu Boden geworfen.
Ich zog einen unsichtbaren Hut von meinem Haupt und neigte meinen Kopf zum Gruße. »Der Namenlose«, stellte ich mich freundlich vor. »Und der Mann, dem Ihr gleich zu Willen sein werdet, ist mein Bruder Egid Einauge.«
»Ich bring dich um!«, brüllte der überwältigte Hüne, während er niedergedrückt wurde.
Ich konnte aus den Augenwinkeln Derrick schwer schlucken sehen, während er entsetzt dabei zusah, wie Egid mit seiner Beute verschwand.
Ich lächelte wissend. »Nun geh schon!«
Derrick sah mich an.
Ich nickte Egid hinterher. »Lass ihn nicht allein den ganzen Spaß haben.«
Derrick lehnte ab. Er nickte auf die junge Frau mit dem kurzen, roten Haar, die ich mit einem Arm locker festhalten konnte, obwohl sie sich wehrte. »Was ist mit ihr?«
»Immer willst du, was ich habe!«, konterte ich mit gespielter kindlicher Stimme.
Derrick und ich brachen in Gelächter aus.
»Komm schon, mein Bruder«, bat Derrick und wischte sich eine Lachträne aus den Augenwinkeln, »lass deine Laune nicht an ihr aus.«
Ich atmete tief durch ... und ließ sie los.
Die junge Frau stolperte von mir weg und wirbelte dann irritiert erneut zu unserem Tisch herum. Ich und Derrick stützten uns auf die Tischplatte und sahen gelassen zu ihr hinauf.
»Dann hätte ich gerne zwei volle Krüge Met und für mich und meine Männer das Beste, was Eure Küche zu bieten hat, meine Schöne.«
Sie wusste einen Moment nicht, ob sie mich hassen oder mich anhimmeln sollte, als ich ihr mein charmantes Lächeln schenkte.
Doch sie besann sich wieder und räusperte sich. »Wo ist mein Bruder?«, fragte sie und blickte zur Tür, durch die Egid mit dem Küchenjungen verschwunden war.
Derrick und ich tauschten Blicke aus, wir schmunzelten.
Ich wandte mich mit einem Schulterzucken wieder an die junge Frau. »Er geht gerade auf einen wilden Ritt, nehme ich an.«
Derrick schnaubte amüsiert.
Die junge Frau wusste nicht, ob sie bleiben oder nach ihrem Bruder sehen wollte.
»Bitte, geh nur, Teuerste«, forderte ich sie auf. »So wie ich unseren Egid kenne, wird es ihn nach einer Nachspeise verlangen, wenn er fertig ist.«
Meine Männer grölten vor Lachen.
Derrick mischte sich ein: »Oder Ihr geht und holt unsere Bestellung.« Er klang eindringlich ... führsorglich. Dieser gefühlsduselige Narr!
Sie schluckte schwer, während sie nachdachte.
»Kommt schon, so schwer kann das doch nicht sein!« Ich stand auf und legte ihr einen Arm um die Schulter. Plaudernd lenkte ich sie zu meinen Männern. »Entweder du versorgst mich und meine ehrenwerten Brüder mit Speis und Trank, oder«, ich legte meine Lippen an ihr Ohr und senkte die Stimme zu einem verheißungsvollen Flüstern, »wir vernaschen dich.«
Derrick lachte dunkel an unserem Tisch, doch er klang ebenso nervös wie die junge Frau aussah, denn er wusste, dass ich nicht scherzte.
Erneut schluckte die junge Frau, während ihr Blick über meine Männer schweifte. Lazlo juckte es schon in der Hose, ich konnte sehen, wie er sich mit zur Hilfenahme seiner Hand platz im Schritt verschaffte. Manolo der Berg leckte sich gierig über die Lippen. Corin aus Cord – oder wie ich ihn gerne nannte: Corin ›kann nichts‹ aus Cord – öffnete bereits seine Hose.
Die junge Frau wandte sich aus meinen Griff und eilte zur Küche.
Meine Männer schienen enttäuscht.
»Und sie wahrt nie wieder gesehen«, sagte Derrick laut.
Ich lachte. Lachte brüllend. Viel zu laut. Ein irres Lachen. Meine Männer sahen mich irritiert über diese Stimmungsschwankung an, zumal Derricks Kommentar nicht halb so witzig gewesen war, wie mein Lachen vermuten ließ.
Ich verstummte jedoch, als plötzlich der Wirt mit einem gezogenen Schwert hinter mir stand.
»Der Teufel soll Euch holen!«, schrie er und schlug mit der Klinge nach mir.
Derrick sprang auf, er zog die Armbrust von seinem Rücken. Aber sein Eingreifen war nicht nötig. Der alte Mann hatte das Schwert nicht hart genug schwingen können, sodass ich die Klinge mit Leichtigkeit mit der Hand abfangen konnte.
Verblüfft darüber, dass ich mir ohne ein Zucken meiner Wimpern eine Schnittwunde hatte zufügen lassen, nur um das Schwert abzufangen, starrte der Alte mich an.
Ich presste die Hand zu, Blut quoll hervor. Mein Blut. Ich liebte die Wärme der dunkelroten Flüssigkeit, die meinen Arm hinab rann und von meinem Ellbogen tropfte.
Der alte Mann mit dem ergrauten Haar starrte mich entsetzt an.
Ich grinste ihm ohne Freude in seine fassungslose Miene und behauptete: »Ich bin der Teufel!«
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