»Ergebt Euch, Jungchen«, forderte der Bogenschütze. »Ihr habt keine Chance zu entkommen.«
Ich brach in Gelächter aus. Das irritierte die Wache.
Plötzlich wurde ich tot ernst: » Abwarten! « Ich zog mein Schwert.
Der Bogenschütze ließ den Pfeil sausen. Er traf mich in der Schulter, mein Arm wurde leicht zurückgeworfen, und ich brüllte auf.
Triumphierend grinsend, glaubte der Schütze, dass er mich getroffen hatte.
– Hatte er auch.
Er dachte, das hielte mich auf.
– Tat es aber nicht.
Der arme Narr hatte ja keine Ahnung, dass der Schmerz eine Art Lebenselixier war, das mich wachrüttelte und mich stärker machte. Ich liebte den Schmerz, solange er mich nicht umbrachte.
Mit dem Pfeil in meinem Körper, der glücklicherweise nicht in jener Schulter steckte an der mein Schwertarm hing, stürmte ich auf die Wache zu. Ich zerschlug mit dem Schwert seinen Bogen, packte den blauen Wappenrock – der über seiner Rüstung gespannt war – und stach ihm meine Klinge direkt durch den Kehlkopf schräg nach oben in sein Hirn. Mein Schwert durchbrach seinen Schädel, tote Augen starrten mir entgegen. Immerhin hatte ich ihm einen schnellen Tod gewährt. Eine Gnade, die ich wirklich nicht vielen meiner Opfer zuteilwerden ließ.
Ich zog mein Schwert heraus und ließ den toten Körper zu Boden fallen. Schreiende Frauen, die zuvor mit sicherem Abstand zugesehen hatten, rannten in alle Himmelsrichtungen davon, ihnen folgten mit noch schrillerem Geschrei viele Männer.
Ich grinste zufrieden.
Sie hatten Glück, das ich kein Sadist war, ansonsten wäre ich ihnen hinterhergerannt, aber ich tötete niemals willkürlich. Blut durfte nur vergossen werden, wenn es einem Zweck diente, ich hatte meine Prinzipien – wenn auch nicht viele.
Hinter mir hörte ich die Horde der Stadtwache herannahen und ich beschloss, zu fliehen.
Flink und leichtfüßig rannte ich durch die Stadt, die steilen Wege hinab in Richtung Südtor.
Ich stellte mir vor, wie Derrick nervös im Sattel saß und vor der Stadt sein Pferd auf und abtraben ließ, während er den Aufruhr unbeteiligt verfolgen musste. Ich hoffte, dass sie ihn noch nicht mit mir in Verbindung gebracht hatten.
Um den Wachen zu entkommen, nahm ich ungewöhnliche Wege. An Häuserwänden entlang, über Dachziegel, durch den kleinen Bach, der aus dem Berg floss und die Stadt spaltete.
Am Stadttor warteten bereits Wachen auf mich, aber ich wollte gar nicht durch das Tor. Sie sahen ziemlich verblüfft aus, als ich dank meiner besonderen Leichtfüßigkeit die Mauer hochklettern konnte.
Ich stieß noch eine Wache von der Mauer, ehe ich auf der anderen Seite hinuntersprang und auf den dunkelhaarigen Reiter zu rannte, der sein schwarzes Ross im rechten Moment wendete. Meinen eigenen Gaul ließ ich einfach zurück, er stand zu weitentfernt, als das ich ihn in angemessener Zeit erreicht hätte.
Atemlos warf ich mich hinter Derrick auf den breiten Pferderücken und hätte den stattlich gebauten Krieger beinahe aus dem Sattel gerissen.
»Deine Schulter!«, rief Derrick zu mir nach hinten. Er machte sich wohl Sorgen wegen des Pfeils darin.
»Mir geht’s gut«, versicherte ich ihm. Ungeachtet der Schmerzen riss ich den Pfeil aus meiner Schulter und ließ ihn fallen, meinen Arm würde ich eine Weile nicht richtig bewegen können, aber das war mir im Moment egal.
»Los! Los! Verschwinden wir hier!«, hetzte ich Derrick.
Dieser stieß die Hacken in die Flanke seines Hengstes und wir flogen mit donnernden Hufen den aus dem Tor eilenden Wachen davon.
Pfeile verfolgen aber verfehlten uns.
»Was hast du getan?«, schrie Derrick erbost.
Ich musste mich an ihm festhalten, um nicht vom Pferd zu fallen. Der Ritt war hart und ich hopste auf dem großen Gaul herum wie eine Puppe auf einem Fass, das auf einer wilden Strömung schwamm. Schnee wirbelte unter den monströsen Hufen des Pferdes auf und streifte über meine Wangen, der eisige Wind um uns herum ließ meine hellen Bartstoppeln gefrieren, und Derricks schulterlange, verzottelten Locken wehten mir immer wieder ins Gesicht. Ich war so genervt, dass ich Derricks Frage überhörte und versuchte, mich davon abzuhalten, ihm wegen seines nervigen Reitstils einen Dolch in den Rücken zu rammen.
Ich hätte ihn einfach aus dem Sattel reißen und ihn zurücklassen sollen, das hätte mir wenigstens einen kleinen Vorsprung eingebracht. Aber das wäre nur unnötige Verschwendung einer starken Schwerthand gewesen, die ich mir in meiner momentanen Lage nicht erlauben durfte.
Außerdem … Derrick war leider nicht zu ersetzen, aber Gott behüte, dass er das je erfuhr.
Ich warf einen Blick über die Schulter, während wir den Berg hinunter galoppierten und auf eine Fläche flachen Ödlands zuhielten. Die steinerne Stadt namens Bons geriet immer mehr in den Hintergrund, doch ihre Wachen mit den blauen Wappenröcken, auf denen ein Umriss des Berges gestickt war, verfolgten uns weiterhin.
»Beeil dich mal«, brüllte ich Derrick ins Ohr.
»Ich tue, was ich kann«, gab Derrick gelassen zurück.
Er kannte mich schon lange und ließ sich selten von mir provozieren, was mich wiederum verärgerte, ich wollte nicht durchschaubar sein, nicht einmal für Derrick, der am längsten bei mir war.
Wir gelangten in einen Engpass. Neben uns erstreckten sich hohe Felswände mit lockerem Geroll. Derrick hielt, auf meinen Befehl hin, an.
Wir warteten kurz, bis die Wachen uns fast eingeholt hatten, dann gab Derrick der Flanke seines Pferdes erneut einen Tritt, und ich brüllte in die Schatten: »Jetzt!« – Ich gab das Zeichen.
Derrick und ich ritten durch den Engpass und als die Wachen uns folgten, lösten meine Waffenbrüder die Falle aus und die Männer der Stadtwachen wurden gemeinsam mit ihren teuren Pferden unter dreckigen Felsbrocken zerquetscht.
Ich schlug aufgeregt gegen Derricks Schulter. »Dreh um! Dreh um!«
Derrick wendete den Hengst, der schnaubend auf der Stelle tänzelte.
Mit leuchtenden Augen sah ich dabei zu, wie loses Geröll den Engpass füllte.
Meine Männer kamen aus den Schatten, sie stiegen auf ihre Pferde und ritten auf uns zu.
Ich rutschte von Derricks Pferd.
Die Bruderschaft hielt vor mir an. Eine Schar verachtenswerter Männer, einer hässlicher als der andere, starrten grimmig zu mir herab.
»War das alles?«, brummte Lazlo ›das Narbengesicht‹ verdrossen.
Ich hatte ihm den Namen gegeben, ich habe all meinen Waffenbrüdern ihre Namen geben, als ich mich zu ihrem Oberhaupt ernannt hatte. Damals war ich gerade mal erst elf Sommer alt gewesen. Meine Männer waren raue Mistkerle unter denen ich mich behauptet hatte. Ich habe sie zu einer Bruderschaft geformt, sie schuldeten mir ihre Treue. Wer nicht bereit gewesen war, mir zu folgen – einem Jungen zu folgen –, hatte sterben müssen. So handhabte man das eben auf der Straße. Der Stärkere überlebt. Ich war vielleicht körperlich nicht stärker, dafür aber geistig. Ich hatte eben einen starken Willen.
Ich finde, ich hatte diese Hunde gut unter Kontrolle. Allerdings verstand ich unter »Kontrolle« wahrscheinlich auch nicht das, was ein normaler und gesetzestreuer Bürger Carapuhrs darunter verstehen würde.
Lazlo spuckte einen großen Schleimklumpen auf den Boden. Er hatte Glück, das er es nicht direkt vor meinen Füßen getan hatte, ansonsten hätte ich es als Beleidigung empfunden und ihn eigenhändig in zwei geteilt.
Ich ignorierte ihn und stampfte hinüber zu Kostja ›dem Zarten‹; oder wie ich ihn gerne nannte: Kostja ›der Benutzte‹.
Er saß mit seinem dürren, schlaksigen Körper im Sattel eines vitalen braunen Gauls.
Ich schubste den Jungen – der nur zwei Jahre jünger war als ich – aus dem Sattel, und steckte meinen eigenen Fuß in den Steigbügel. Ohne auf Kostja zu achten, der sich auf der anderen Seite wieder aufrappelte, schwang ich mich in den Sattel.
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