»Hallo?« Eagle sank auf die Knie und betrachtete den anderen Mann. »Geht es Euch gut?«
Der Mann blieb reglos auf dem Boden seiner Zelle liegen. Vielleicht war er betrunken und hatte im Vollrausch die Wachen angegriffen? Aber warum wurde er dann von Rittern der Garde hereingeschleift? Er stank auch nicht nach Alkohol, obwohl Eagle Erbrochenes an ihm riechen konnte.
»He, du!«, rief er lauter.
Es tat sich nichts.
Eagle fuhr sich durch sein rotblondes Haar und seufzte unzufrieden. Er hätte dem Mann gerne geholfen, das lag in seiner Natur, er half jedem, auch Fremden, vor allem jenen, die verletzt waren. Doch er kam leider nicht an den reglosen Mann heran.
Da der andere Mann nicht aufwachte, langte Eagle nach dem Gegenstand, den er verloren hatte. Er presste das Gesicht gegen die Eisenstangen und streckte den Arm in die Nebenzelle. Seine Finger angelten die Kante und er zog den Gegenstand näher.
Es war ein zerschlissenes, kleines Buch.
Eagle setzte sich mit dem Rücken an die Gitterstäbe und fuhr über den ledernen Einband. Er wirkte stark abgenutzt und feucht. Er schlug das Buch auf. Mit dunkler Tinte hatte jemand in krakeliger Handschrift seine Gedanken festgehalten. Eagle rutschte näher zur vergitterten Öffnung, die sich direkt unterhalb der Zellendecke befand. Er setzte sich ins Licht und begann zu lesen ...
Den ersten Schritt zur Veränderung erkennen wir erst, wenn er bereits gemacht wurde.
»Sucht ihn!«, knurrte der Kommandant der Stadtwache. Seine dunkle Stimme grollte über die nackten Steinwände des Tempels. »Findet den Eindringling!«, forderte er von seinen Männern.
Ich duckte mich tiefer in die Nische hinter der geöffneten Holztür, durch die der Kommandant mit seinen Wachleuten gekommen war, und ärgerte mich darüber, dass er mich Eindringling nannte.
Meine Hand wanderte zielsicher zu dem Schwert an meinem Hüftgurt und umklammerte eisern seinen Griff. Den Kommandanten hätte ich ohne Schwierigkeiten überwältigen können, er stand mit dem Rücken zu meinem dunklen Versteck, er hätte mich nicht einmal kommen sehen. Aber ich war allein gegen sechs weitere Wachen, die in silbernen Rüstungen steckten, während ich nur dünnes Leder am Leib trug.
Zu riskant!
Ich besann mich und ließ vom Griff meines Schwertes ab. Ich verhielt mich ruhig.
In geduckter Haltung und mit gezogenen Waffen schlichen die Wachen tiefer in den Raum. Sie stanken nach Fisch und Met, was mich annehmen ließ, dass ich sie bei ihrem Abendmahl aufgeschreckt hatte. – Es war ein blöder Fehler meinerseits gewesen, gegen einen Krug zu laufen und Lärm zu machen. Aber mit Verfolgern im Nacken gewann meine Unternehmung an Reiz. Ich hatte nichts gegen Herausforderungen, im Gegenteil, ich bevorzugte sie.
Vielleicht hatte ich mit Absicht auf mich aufmerksam gemacht, um hinterher sagen zu können, ich hatte mich wehren müssen .
Die Wachen durchkämmten nun einen heimtückischer Raum, eine Ruhestätte für die Toten, mit vielen Versteckmöglichkeiten. Ich hätte überall lauern können.
Die Fackeln warfen Licht, und Licht warf Schatten. So konnte ich verfolgen, wohin die Wachen gingen.
Ich wartete nicht lange, als sie außer Reichweite waren, und löste mich aus meinem Versteck. Lautlos, dank leichtem Schuhwerk, schlüpfte ich hinter der Tür hervor und verschwand durch diese aus dem Raum. Ich gelangte in einen Flur und zog eilig die Tür zu.
Die Wachen hatten das Quietschen der Scharniere vernommen und ich konnte ihre Rufe und ihre schweren Schritte hinter der Tür hören.
Ohne zu zögern nahm ich den Kerzenständer, der neben der Tür im Flur gestanden hatte, und benutzte ihn als Türverriegelung. Es funktionierte, die Wachen rannten gegen die Tür, die nicht nachgab.
Über meine eigene List schmunzelnd, wandte ich mich ab und ließ das wütende Brüllen des Kommandanten hinter mir.
Aber jetzt musste ich mich beeilen, denn das Holz der Tür würde nicht ewig dem Stoßen und den Klingen der Wachen standhalten.
Ich rannte durch den Flur und durchschritt einen offenen Doppeltürbogen aus bläulich schimmerndem Gestein. Jemand ehrenwerteres als ich wäre bestimmt staunend stehen geblieben und hätte die Schönheit der unter der Erde liegenden »Halle der Toten« bewundert, die ich nun mit meinen unwürdigen Füßen betrat und entweihte. Ich hingegen machte mir nicht viel aus dem Schimmer, der mir entgegenstrahlte. Wenn mir irgendetwas keinen Vorteil einbrachte, hatte es auch nicht meine Aufmerksamkeit verdient.
Was mir hingegen einen Vorteil sichern sollte, jedenfalls laut Menard, dem Schamanen, war die Steintafel auf der Anhöhe, die sich nun über meinem Kopf erstreckte.
Tageslicht fiel durch einen Spalt im Gestein herein und beleuchtete das Grabmal, das auf dem Felsvorsprung vor vielen Jahrhunderten errichtet worden war. Ich konnte Staubkörner in dem Sonnenstrahl erkennen, und Schnee rieselte durch den Riss auf mich herab. Hier war es kälter als in den Tempelräumen – und ich schmeckte frische Luft.
Zwei Treppen führten links und rechts zu dem Grabmal hinauf.
Ich nahm die steinernen Stufen zu meiner Linken, immer zwei auf einmal. Schnell gelangte ich nach oben.
Hinter dem Grabmal befand sich ein Raum. Einst eine Krypta, doch nun fand ich dort ein Bett und einen provisorisch zusammengeschusterten Tisch mit einem mickrigen Stuhl, die beide von der Armut eines einfachen Mönchs zeugten.
Auf dem Tisch fand ich Schriften mit Forschungsdaten, leere Schriftrollen und Schreibfedern. Das Feuer, das in einer Ecke entfacht worden war, war schon lange erloschen. Ein Kessel mit kaltem Eintopf hing über der kalten Kohle.
Ich ging weiter und steuerte auf das Grabmal zu. Vor der steinernen Tafel war die Erde ausgehoben, ein gefrorener Haufen braunen Grunds lag daneben. Auf der anderen Seite stand ein Sarg aus schwarzem Stein.
Mit großen Schritten stampfte ich auf den Sarg zu. Auf dem Deckel stand tief in den Stein gemeißelt: »Störe die Ruhe des ehrenwerten Priesters Odilo, und die Verdammnis wird über dich hereinbrechen.«
Ich stemmte die Hände gegen den Sargdeckel und schob ihn auf. Mit vor Anstrengung verzerrter Stimme knurrte ich: »Ich bin die Verdammnis!«
Nur schwer ließ sich der Stein bewegen, aber ich gab nicht auf. Als er sich ein Stück öffnete, schlug mir der modrige Geruch des Sarginneren entgegen. Aber ich hatte weiß Gott schon Schlimmeres gerochen.
Je weiter ich den Sarg öffnete, je kälter schien es um mich herum zu werden. Ich glaubte den Boden vibrieren zu spüren, und die Wände des Gewölbes wackeln zu sehen, aber es konnte auch an dem Kraftaufwand liegen, den ich anwandte um Erfolg zu erzielen, und musste nichts mit Magie zutun haben.
Magie fürchtete ich nicht. Sie war ebenso leicht zu bekämpfen und zu besiegen wie ein Mann mit einem Schwert. Man musste nur wissen, wie.
Trotzdem presste ich noch einmal entschlossen hervor: » Ich bin die Verdammnis!«
Und mit einem Ruck fiel endlich der schwere Deckel vom Sarg. Staub flog mir ins Gesicht, als Luft in das Innere des Steinkastens drang.
Ich wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht, bis ich wieder eine klare Sicht hatte. Durch den Flur drangen die Geräusche der Wachen zu mir, die dabei waren, die Tür einzutreten.
Ich hatte nicht mehr viel Zeit.
Als der Staub sich verzogen hatte, und ich den Toten im Sarg betrachten konnte, breitete sich ein Lächeln auf meinen vollen Lippen aus.
»So besonders seht Ihr gar nicht aus, oh hoher Priester Odilo«, sagte ich spöttisch zu der Mumie, deren eingefallener Körper in einem prunkvollen Priestergewand aus blauem Samt steckte. – Ich hatte keinen Respekt vor den Toten. Magie schien den Körper weitestgehend erhalten zu haben. Ketten aus massivem Gold und verzierte Edelstahlringe zierten den Leichnam.
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