Godvere nahm die gelbe Mappe entgegen und blickte auf das eingestanzte Wappen.
„Ist das nicht das Wappen der Stadt Kushtur?“ Fragte er den Gelehrten. Als dieser nur eifrig nickte öffnete der Herrscher die Mappe und begann die ersten Seiten eines Vertrages zu lesen, auf dem ganz offensichtlich nur noch seine Unterschrift fehlte. Als Unterhändler des Darkanischen Reiches wurde mehrmals Lord Reichel genannt, der die Bedingungen ausgehandelt hatte.
„Reichel!“ Brüllte der Herrscher aus Leibeskräften dem Minister hinterher, der erst vor kurzem den Thronsaal verlassen hatte. Dabei schritt er in Richtung der schweren Doppeltür. Der Herrscher bebte vor Wut. Mit seiner Hand zeigte er auf zwei der Blutwölfe, deren Nischen sich unmittelbar neben der Tür befanden.
„Holt mir sofort den Minister her. Sofort. Sollte er nach Ausflüchten suchen, schleift ihn hierher!“
Die Männer schlugen gleichzeitig mit ihrer rechten Faust auf ihre linke Brust und verließen umgehend den Thronsaal, um den Befehl auszuführen.
Der Junge konnte sein Glück kaum fassen. Ungesehen schlich er zum Ende des Tisches, griff nach dem Dolch und ließ ihn ebenfalls in seinem Rucksack verschwinden. Blitzschnell huschte er wieder unter die Tischplatte und verschwand in dem geheimen Gang. Ein schneller Griff am kleinen Hebel sorgte dafür, dass die Schiebetür sich wieder lautlos schloss. Es war stockdunkel in diesen geheimen Fluren. Trotzdem verzichtete der Junge darauf, eine der vielen Fackeln anzuzünden, die überall in den Halterungen steckten. Er liebte die Dunkelheit und es dauerte nicht lange bis sich seine Augen wieder vollständig ans Dunkle gewöhnt hatten.
Ein empörtes Gezeter verriet dem Herrscher, dass die Blutwölfe ihren Auftrag schnellstens erledigt hatten. Mit verschränkten Armen, dabei die gelbe Mappe haltend, stand der Herrscher mitten im Saal und beobachtete wie die beiden Hünen von Soldaten den kleinen Minister links und rechts unter den Armen gepackt hielten und in den Thronsaal trugen. Ohne ein Wort zu sagen ließen sie ihn kurz vorm Herrscher fallen, wobei Reichel Mühe hatte, das Gleichgewicht zu halten. Erneut schlugen sie mit ihrer rechten Faust auf die linke Brust, drehten sich um und schritten wortlos zu ihren Nischen. Lord Reichel zupfte sich seine Kleider zurecht und setzte augenblicklich sein freundlichstes Lächeln auf, als er die Mappe in den Händen des Herrschers erblickte. Godvere hielt sie ihm direkt vors Gesicht.
„Eine Erklärung Reichel. Aber sofort.“
„Ich... wir... es ist die einzige Möglichkeit... die einzige Möglichkeit uns vor der Stadt der Magier zu schützen und nicht von ihren Armeen überrollt zu werden.“
„Hast du den Verstand verloren du kleiner hässlicher Idiot?“ Schrie Godvere den Minister an: „Kushtur ist lediglich eine Stadt. Eine Stadt am anderen Ende der bekannten Welt. Dies hier ist das Darkanische Reich! Wie kannst du dir solche Bedingungen diktieren lassen.“ Der Herrscher packte die Mappe fester und schlug sie dem Minister ins Gesicht, worauf Reichel ängstlich quiekte.
„Niemals werde ich so etwas unterschrieben. Es gibt kein Korn und auch keine Waffen aus Darkan. Wir verteidigen unsere Grenzen mit unserem Stahl und unserem Blut, wenn es jemand wagen sollte uns zu bedrohen.“
„Mein Herr!“ Flehte Reichel, während er sich die schmerzende Wange hielt: „Ich habe etliche Stunden mit den Gesandten aus Kushtur verhandelt. Die Stadt der Magier ist dabei, eine gewaltige Armee aus dem Boden zu heben, um die umliegenden Königreiche zu unterwerfen. Wahrscheinlich sogar die gesamte bekannte Welt.“
Godvere Garien trat so dicht an Reichel heran, dass einige der Blutwölfe nervös wurden. Sämtliche Armbrustschützen hielten ihre Waffen auf Reichel gerichtet.
„Ihr werdet den Gesandten aus Kushtur ausrichten, dass ich ihre kleine Stadt ausradieren werde, sollte je einer ihrer Soldaten unsere Grenzen überschreiten. Sobald ihr ihnen das vermittelt habt, sollen sie verschwinden. Umgehend! Habt ihr das begriffen Reichel?“
„Jawohl, natürlich! Wie ihr wünscht. Sofort!“
Wie ein geprügelter Hund verließ Lord Reichel erneut den Thronsaal. In seinem Kopf überschlugen sich fast panikartig die Gedanken. Von dem euphorischen Gefühl, das ihm vor wenigen Minuten noch innewohnte, war nichts mehr übrig.
Godvere Garien wandte sich um und Schritt in Richtung seines Throns. Gedanklich war er schon wieder bei seinen Kindern, den verschwundenen Zwillingen. Ihr Schicksal lenkte den Herrscher dermaßen ab, dass er nicht länger über Lord Reichels merkwürdige Zugeständnisse an die Stadt der Magier nachdachte. Gemächlich stieg er die Stufen empor und umrundete seinen Thron, um sich etwas von den Speisen zu nehmen, die auf dem Tisch dahinter bereitstanden. Er neigte seinen Kopf ungläubig zur Seite, als er die geplünderten Platten und das Chaos auf dem Tisch wahrnahm. Selbst der Dolch, mit dem er stets die Fleischstücke aufspießte war verschwunden. Godvere wurde bewusst, dass er eine Ablenkung benötigte. Auf einen Wink eilte einer der Gelehrten zu ihm, worauf ein anderer Schreiber dessen Arbeit sofort weiterführte. Der Gelehrte, ein älterer Mann mit einem freundlichen Gesicht erklomm die ersten beiden Stufen und wartete ab, was der Herrscher von ihm wollte.
„Erzählt mir alles,“ forderte Godvere ihn auf, nachdem er dem geplünderten Tisch einen letzten Blick zuwarf: „Was es über Dormus den Schrecklichen zu berichten gibt!“
Während die Dämmerung schleichend einsetze, erreichte Vitras die Hauptstadt des Darkanischen Reiches. Das strahlende Leuchten der Sonne wich mehr und mehr einem dunklen satten Orange, welches Darkan und seine Umgebung in ein atemberaubendes Licht tauchte. Die Reise hatte mehrere Tage gedauert, dennoch war er sich sicher, dass außer den Göttern, niemand zuvor diese Wegstrecke schneller zurückgelegt hatte. Der Kriegszauberer lenkte Audris, die kaum Ermüdungserscheinungen zeigte, eine Hügelkette empor, welche einen grandiosen Ausblick über die Stadt offenbarte. Vitras ließ seinen Blick über Darkan schweifen und konnte, wie schon vor etlichen Jahren, nur staunen.
Die Befestigungsanlagen waren wahrhaftig gigantisch. Der erste Wall, der die Stadt umgab, war schräg angesetzt und stieg erst ab seiner Mitte steil empor. Ein ganzes Stück hinter dem Wall, erhob sich eine weitere Mauer, die wesentlich höher war als die erste. Wenn es einer feindlichen Armee tatsächlich gelingen sollte, die erste Mauer zu nehmen, wären dessen Soldaten einem tödlichen Hagel der Bogenschützen der zweiten Mauer ausgesetzt, ohne die geringste Deckung zu haben. Hinzu kamen die gewaltigen Wehrtürme, die in regelmäßigen Abständen im hinteren Wall eingefügt waren. Die Wehrgänge auf beiden Wällen, waren immer wieder von breiteren Plattformen unterbrochen, auf denen mächtige Katapulte standen. Ähnlich wie in Kushtur, befand sich der Palast des Herrschers ziemlich mittig in der Stadt. Anders als der Palast der Magier, war der Palast des Herrschers jedoch auf einem künstlich aufgeschütteten Hügel errichtet worden. Dafür war er von nahezu unüberwindbaren Befestigungsanlagen umgeben.
Während Vitras die Hügelkette wieder hinab ritt, sann er darüber nach, durch welches der drei großen Tore er Darkan betreten sollte. Vitras verließ den schmalen Weg, der die Hügelkette hinunterführte und fand schnell das kleine Wäldchen, welches vielleicht zwei Meilen vor der Stadt lag und dass er mit vielen Erinnerungen verband. Er stieg vom Pferd und führte Audris bis zu einem kleinen Bach. Dies war der perfekte Ort, wo Audris grasen und sich ausruhen konnte. Es widerstrebte den Kriegszauberer, das edle Tier mit in die Stadt zu nehmen um es dort in die Obhut irgendeines Stallburschen zu geben. Zumal er das Gefühl hatte, Darkan nicht auf die Weise verlassen zu können, wie er es betreten würde. Auch Filou, wäre hier wesentlich besser aufgehoben. Es stellte nie ein Problem dar, den Nager alleine zu lassen, solange er einen Bezugspunkt hatte. Bisher war dies stets seine inzwischen zerstörte Hütte in den Doronischen Wäldern, einmal aber auch Hegren und ihr Vater in Dormal gewesen. Nun hoffte Vitras, dass Filou sich an Audris halten würde und hatte keinen Zweifel mehr daran, als er das Frettchen aus der Satteltasche ließ. Als ob Filou seinen Herrn verstand, kletterte er auf den Sattel den Vitras unter eine große Eiche gelegt hatte und blickte sich neugierig um.
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