„Sie wissen nicht, was ein …“, er suchte nach dem Wort für „Mensch“, fand es aber nicht. „Es hat sie nie jemand gejagt.“
Die Worte huschten durch seinen Geist, auch wenn er sich nicht ganz sicher war, was sie bedeuteten. Sie tauchten sozusagen von selber auf; irgendwo in ihnen lag ein vertrauter Klang. Zugleich stiegen Gefühle in ihm auf, die er ähnlich empfand, obwohl auf andere Weise vertraut und natürlich; Gefühle die er einst sehr gut gekannt, aber vor langer Zeit verloren hatte.
Was waren sie? Woher kamen sie? Sie schienen so weit weg wie die Sterne und waren doch in seinem Körper, in seinem Blut und den Nerven, ein fester Bestandteil seines Fleisches. …Oh, wie lang, wie lang?
Es fiel ihm schwer zu denken; aber es fiel ihm leicht zu empfinden. Wenn er versuchte zu denken, gelang ihm das nur für kurze Zeit, dann kamen die Empfindungen und erstickten den Versuch.
Dieser riesige, scheußliche Bär – nicht ein Nerv, nicht ein Muskel hatte gezittert, als der scharfe Geruch in seine Nase gedrungen war und sein Fell sich an seinen Beinen gerieben hatte. Dennoch war er sich bewusst, dass irgendwo Gefahren lauerten, wenn auch nicht hier. Irgendwo gab es Angriffslust, Feindseligkeit und ausgeklügelte Pläne gegen ihn – wie gegen das herrliche umherschweifende Tier, das ihn beschnüffelt und geprüft hatte und dann zufrieden seiner Wege gegangen war. Aber – nicht hier. Hier war er sicher, geborgen und in Frieden; hier war er glücklich; hier konnte er frei umherschweifen, ohne ängstliche Blicke in die Tiefen des Waldes, ohne ständig die Ohren nach verdächtigen Lauten zu spitzen, ohne nach verdächtigen Gerüchen zu schnüffeln. Er fühlte es, ohne es zu denken. Er fühlte sich auch hungrig und durstig.
Etwas in ihm drängte ihn schließlich zum Handeln. Das Kochgeschirr lag neben seinen Füßen und er hob es auf. Die Streichhölzer – sie steckten in einer Büchse, deren Schraubdeckel sie vor Feuchtigkeit schützte – waren schon in seiner Hand. Er sammelte einige trockene Zweige und bückte sich, um sie anzuzünden. Plötzlich zuckte er zurück – zum ersten Mal empfand er Furcht.
Feuer! Was war Feuer? Der Gedanke erschien ihm abstoßend, es war unmöglich, er fürchtete sich vor Feuer. Er schleuderte die Metalldose dem Gewehr hinterher, sah sie in den letzten Strahlen des Sonnenuntergangs aufblinken und mit leisem Platschen im Wasser versinken. Als er auf sein Kochgeschirr blickte, begriff er, dass er keinen Gebrauch davon machen konnte, ebenso wenig wie von dem trockenen braunen Zeug, das er in Wasser hatte kochen wollen. Er fühlte keinen Widerwillen, schon gar keine Furcht bei dem Gedanken an diese Dinge. Er konnte sie nur nicht benutzen, er brauchte sie nicht und hatte vergessen, ja vergessen , was sie eigentlich bedeuteten. Diese eigenartige Vergesslichkeit ergriff immer schneller von ihm Besitz, wurde umfassender mit jeder Minute. Doch der Durst musste gelöscht werden.
Im nächsten Moment fand er sich am Bachufer wieder. Er bückte sich, um sein Kochgeschirr zu füllen, hielt inne, zögerte, musterte das strömende Wasser und ging unvermittelt einige Schritte bachaufwärts. Das Kochgeschirr ließ er zurück. Er war ungeschickt damit umgegangen, mit linkischen, ja unnatürlichen Handbewegungen. Jetzt warf er sich auf mühelose, einfache Art zu Boden, senkte den Kopf zu einer ruhigen Stelle im Wasser und trank von der kühlen, erfrischenden Flüssigkeit. Aber, auch wenn er das nicht bemerkte, er trank nicht – er leckte.
Er blieb hocken wo er war und aß das Fleisch und den Zucker aus seinen Taschen, leckte noch etwas Wasser und bewegte sich ohne sich aufzurichten ein Stück zurück, auf den trockenen Boden unter den Bäumen. Dort rollte er sich zu einer bequemen Position und schloss die Augen um zu schlafen. Nicht eine einzige Frage erhob sich jetzt noch in ihm. Er fühlte nur Behagen und Zufriedenheit.
*
Er regte sich, schüttelte sich, öffnete ein Auge halb und sah – was er bereits im Schlaf gefühlt hatte – dass er nicht allein war. Auf den parkartigen Flächen vor ihm, wie auch in den Schatten des Waldrandes hinter ihm waren Bewegung und Geräusche, Geräusche von schleichenden Füßen und die Bewegung zahlloser dunkler Körper. Das Schreiten und Stampfen von Tieren, das Dahinziehen dunkler Rücken, geschmeidiger Wesen in endlosem Strom. Auf diese Masse fiel das Licht des Halbmondes der hoch am wolkenlosen Himmel stand. Das Schimmern der Sterne, die in der klaren Nachtluft wie Diamanten funkelten, spiegelte sich in hunderten von Augen, die meisten von ihnen nur ein paar Fuß über dem Boden. Das ganze Tal war lebendig.
Er setzte sich auf und starrte, starrte – doch er starrte in Verwunderung, nicht in Furcht, obwohl einige aus der großen Masse ihm so nahe kamen, dass er nur den Arm hätte ausstrecken müssen, um sie zu berühren. Er blickte gebannt auf ein rastloses Gewimmel im fahlen Licht des Mondes und der Sterne, das nun in der aufkommenden Morgendämmerung verblasste. Und der Geruch des Waldes selbst erschien ihm keineswegs lieblicher als der vermischte Duft, roh, scharf und stechend, dieser pelzigen Masse von herrlichen wilden Tieren, die sich wie ein Meer bewegten. Myriaden von Füßen und Körpern, die in stetigem Auf und Ab vorbeizogen. Auch war das Leuchten der phosphoreszierenden Augen nicht weniger angenehm als jene freundlichen Lampen, die verirrte Wanderer zu gemütlichen Stuben und Geborgenheit leiteten. Aus der wilden Armee strömte die tiefe Behaglichkeit des ganzen Tales auf ihn über, eine Behaglichkeit, die die Freundlichkeit einer Einladung und das Willkommen einer magischen Heimkehr in sich trug.
Es waren keine Gedanken in ihm, aber seine Empfindungen schwollen zu einer Flut von Verwunderung und Zustimmung. Sein Wesen hatte nach Hause gefunden. Er fühlte eine vage, trübe Ahnung in sich, dass er nach einer langen, nutzlosen Irrfahrt in einer anderen Welt, in der widrige Bedingungen ihn gezwungen hatten, sich unnatürlich und damit schrecklich zu benehmen, dahin zurückgekehrt war, wo er hingehörte. Hier, im Tal des Wildes, hatte er Frieden, Geborgenheit und Glück gefunden. Er würde endlich er selbst sein.
Es war eine wunderbare, fast magische Szene, die er beobachtete, die Nerven aufs Höchste angespannt und doch völlig ruhig, die Sinne zu äußerster Wachsamkeit gereizt, doch es war nichts beunruhigendes in den Botschaften, die sie ihm zutrugen. Unaufhaltsam wie eine mächtige Flut und doch undeutlich wie aus unermesslich fernen Zeiten und Räumen erhob sich über ihm der Bann einer längst vergessenen Erinnerung an einen Zustand, in dem er zufrieden und glücklich war, in dem er natürlich war. Die Schemen mächtiger, archaischer Bilder tauchten vor ihm auf und verblassten wieder, bevor ihre Einzelheiten erkennbar wurden.
Er beobachtete die große Armee der Tiere, sie waren nun überall um ihn herum. Er kauerte auf den Knien im Mittelpunkt eines ruhelosen Stroms wilden Waldlebens. Große Timberwölfe liefen hin und her, kamen in langen Sätzen auf ihn zu und drehten anmutig wieder ab. Mit heraushängenden roten Zungen schwärmten sie zu hunderten umher. Zwischen ihnen trotteten die riesigen Grizzlies, nicht plump, wie ihre ungeschlachten Körper es hätten vermuten lassen, sondern leichtfüßig, geschmeidig und flink. Sie tollten herum und richteten sich manchmal halb auf, wohlgestaltet in ihrer Kraft und Masse. Und der schwarze und der braune Bär waren mit ihnen, Bären ohne Zahl, Ungeheuer und kleine Bärchen, eine prächtige Schar.
Ein Stück hinter ihnen, wo die parkartigen Flächen mehr Bewegungsspielraum ließen, erhob sich ein Meer von Hörnern und Geweihen wie ein Miniaturwald im silbernen Mondlicht.
Der gewaltige Stamm des Hirschwildes sammelte sich in riesigen Herden unter dem sternenbeschienen Himmel. Elch und Karibu, der mächtige Wapiti und der kleinere Rothirsch in dichtgedrängten Tausenden. Er hörte den Klang aneinanderschlagender Geweihe, den Tritt zahlloser Hufe, das gelegentliche Scharren am Boden, wenn die größeren Geschöpfe sich mehr Raum verschafften. Er sah einen Wolf, der behutsam die verletzte Schulter eines gr0ßen Elchbullen leckte. Und die Flut zog sich zurück, schwoll wieder an, stieg und fiel wie eine lebendige See mit Wellen in Tierform, den Bewohnern des Tals des Wildes.
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