„Aber ich habe dich gerettet“, weinte ich. „Du warst nie richtig eingemauert. Ich habe dich herausgeholt und von ihm weggebracht, weit über das Meer, und wir waren glücklich bis an unser Ende - wie die Leute in den Märchen.“ Ich sprach diese Worte mit größter Eindringlichkeit zu ihr und sie akzeptierte sie zwangsläufig als die Wahrheit, denn sie umarmte mich und Liebe und Lachen erfüllten ihr geheimnisvolles Kindergesicht, der Schrecken verblasste und die Qual wurde fortgeschwemmt. Die Wandlung hatte sich mit kaleidoskopischer Plötzlichkeit vollzogen.
„Als haben sie dir in Wirklichkeit auch niemals deine armen, toten Hände abgehauen“, sagte sie zögernd.
„Schau doch! Wie hätten sie das tun können? Da sind sie ja!“
Und ich zeigte sie ihr zuerst und presste sie dann an ihre schmalen Wangen und zog ihren Mund zum Kuss heran. „Sie sind immer noch groß und stark genug, um dich ins Bett zu bringen und dich in einen so tiefen Schlaf zu streicheln, dass du, wenn du morgen früh aufwachst, alles über deine dunkle Geschichte mit Philip, Lady Helen, dem eisernen Gürtel, dem Verhungern, deinen grausamen alten Ehemann und alles andere vergessen haben wirst. Du wirst so glücklich und fröhlich aufwachen wie jedes andere Kind ...“
„Wenn du es sagst, dann werde ich es gewiss“, sagte sie und lächelte mich an.
Doch genau in diesem Augenblick erwachte jene Manifestation von Abscheulichkeit, die mein Experiment um ein Haar hätte fehlschlagen lassen, denn sie kam mit einer finsteren Gewalt, die drohte, all meine Suggestionen abzuschwächen und sie unwirksam zu machen. Mein neuer Befehl, alles zu vergessen, war offenbar noch nicht vollständig in ihr Ich eingedrungen. Der Bereich ihres tieferen Unterbewusstseins, der die Geschichte erzeugt hatte, hatte sich noch nicht vollständig hinter die hemmende Schwelle zurückgezogen. Daher war sie noch offen für jegliche Einzelheiten ihres früheren Leids, die sich stark genug hervordrängten. Und eine dieser Einzelheiten drängte sich hervor. Diese herannahende Abscheulichkeit war gelenkt von geradezu übermenschlicher Berechnung.
„Horch!“, schrie sie, und es war dieser flüsternde Schrei , den nur äußerster Schrecken hervorbringen kann. „Horch! Ich höre seine Schritte! Er kommt! Oh, ich hab dir doch gesagt, dass er kommt. Er kommt durch diesen Gang!“
Und sie deutete auf die andere Seite des Raums. Dann sprang sie zuerst von mir weg, als hätte etwas sie verbrannt, und floh fast augenblicklich wieder zurück in meinen Schutz. In diesen kurzen Augenblicken rannte sie in die Mitte des Raums, legte die Hand ans Ohr, um zu lauschen und beschattet dann ihre Augen, um zum anderen Ende des Raums zu spähen. Sie starrte genau auf die Stelle, an der in alten Zeiten der Gang in den nicht mehr vorhandenen Flügel geführt hatte. Das Fenster, das mein Großonkel in die Wand hatte setzen lassen, saß genau an der Stelle, wo der Gang einst begonnen hatte.
Theresa kam jetzt in den Raum geeilt und verspritzte Kerzenwachs auf dem Boden. Sie klammerte sich an meinen Arm. Wir drei standen da und lauschten, lauschten offenbar auf nichts als das Seufzen des Seewindes an den Mauern. Aileen hatte ihr Gesicht in meiner Jacke verborgen. Ich stand aufrecht und versuchte vergeblich, das neue Geräusch zu erlauschen. Ich erinnere mich, dass das Gesicht meiner Cousine kreidebleich war. Ihre Augen flatterten und die Kerze hing schief in ihrer Hand.
Dann hob sie plötzlich die Hand und deutete über meine Schulter. Ich dachte, ihr Unterkiefer würde ihr aus dem Gesicht fallen. Und sie und das Kind sprachen im selben Atemzug die beiden scharfen Sätze, die den Höhepunkt unseres abscheulichen Abenteuers in diesem stillen nächtlichen Raum über uns brachten.
Sie glichen zwei Pistolenschüssen.
„Mein Gott! Da ist ein Gesicht ... es beobachtet uns!“ Ihre Stimme klang erstickt und heiser.
Und in derselben Sekunde schrie Aileen: „Oh, oh, er hat uns gesehen! ... Er ist hier ! Pass auf - er wird mich kriegen. ... versteck deine Hände, versteck deine armen Hände!“
Und indem ich mich der Stelle zuwandte, auf die meine Cousine starrte, erblickte ich nur zu deutlich, dass ein Gesicht - offenbar das Gesicht eines lebendigen Menschen - sich gegen die Fensterscheibe presste - eingerahmt von zwei Händen - und versuchte, im Halbdunkel des Raums nach uns zu spähen. Ich sah das kurze, rasche Rollen der beiden Augen, als das Licht der Kerze auf sie fiel, und erhaschte sogar einen kurzen Blick auf die hochgezogenen Schultern dahinter, als ihr Besitzer, der draußen auf dem Rasen stand, sich etwas herunterbeugte, um besser sehen zu können. Und obwohl sich die Erscheinung augenblicklich zurückzog, erkannte ich sie ohne jeden Zweifel als das düstere und gemeine Antlitz des Butlers. Das Fenster war noch immer von seinem Atem beschlagen.
Das Seltsame an der Sache war jedoch, dass Aileen, die verzweifelt versuchte, sich in den spärlichen Falten meiner Jacke zu verstecken, gar nicht gesehen haben konnte, was wie gesehen hatten, denn ihr Gesicht war die ganze Zeit vom Fenster abgewandt gewesen. Und durch die Art, wie ich sie hielt, hätte sie sich gar nicht in eine Position bringen können, um hinzuschauen. Es hatte sich alles hinter ihrem Rücken ereignet ...
Kurz drauf, sie hatte ihr Gesicht immer noch an meine Jacke gepresst, trug ich sie in meinen Armen rasch durch die Halle und die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer.
Mein Problem mit ihr war natürlich, dass sie, solange sie sich in dem Raum befand, zwischen Schlafen und Wachen geschwankt hatte, denn als ich sie einmal zu Bett gebracht und in tiefe Trance versetzt hatte, war ich mühelos in der Lage, auch ihre schwächsten Gedanken und Gefühle zu kontrollieren. Binnen zehn Minuten war sie friedlich eingeschlafen und ihr Gesichtchen befreit von aller Furcht und allem Schrecken. Und in ihrem Bewusstsein hallte mein gebieterischer Befehl, dass, wenn sie am nächsten Morgen erwachte, alles vergessen sein sollte. Ja, sie würde endlich vergessen - ganz und gar.
Und später, als ich mit Zorn und Abscheu im Herzen zum Zimmer des Butlers in der Bedienstetenunterkunft ging, hatte dieser natürlich eine völlig plausible Erklärung für sein Verhalten. Er erklärte, er sei gerade dabei gewesen, sich fürs Bett fertigzumachen, als unser Lärm seinen Verdacht erregt hatte. Seiner Pflicht getreu hatte er einen Kontrollgang ums Haus gemacht, um die vermuteten Einbrecher zu überraschen.
Mit einem Monatslohn in der Tasche und wahrscheinlich einem beträchtlichen Maß an Verblüffung im Herzen - denn der Mann hatte sich ja nichts Schlimmere zuschulden kommen lassen, als unabsichtlich die Einbildung eines Kindes in Schrecken zu versetzen - reiste er am folgenden Tag nach London ab. Und ein paar Stunden später fuhr ich mit Aileen und der alten Kempster auf den blauen Wogen der Nordsee dahin und brachte sie - merkwürdig genug - genau auf die Weise zurück zu Glück und Fröhlichkeit, wie ihre Einbildung sich ihre Flucht ausgemalt hatte - in der längst vergangenen Geschichte, in der sie Lady Helen war, die von ihrem grausamen Gemahl gefangen gehalten wurde, und ich Philip, ihr ergebener Liebhaber.
Nur dass diesmal ihr Glück vollkommen und für immer war. Die hypnotische Suggestion hatte die letzten Spuren quälender Erinnerungen aus ihrem Geist getilgt und ihr Gesicht war ständig umspielt von einem heiteren Lächeln. Ihr Vergnügen an der Reise und unserer Woche in Antwerpen war vollkommen ungetrübt. Sie spielte und lachte mit all dem goldenen Glanz einer ungetrübten Kindheit und ihre Einbildungskraft war gereinigt und geheilt.
Als wir zurückkamen, war ihre Mutter mit dem Haushalt bereits wieder zum ursprünglichen Familienwohnsitz gezogen, wo sie zuvor gelebt hatten. Dorthin brachte ich das Kind, und dort war es, wo meine Cousine und ich in den alten Familienchroniken forschten und die Einzelheiten der Geschichte De Lornes nachschauten, jenes sagenhaften Vorfahren, dessen Portrait in einer dunklen Ecke des Treppenhauses hing.
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