„Halt mich fest mit deinen großen Armen, immer, immer - versprichst du das, Onkel - Philip?“ Sie vermischte die Namen miteinander.
Die würgende Spannung in ihrer Stimme quälte mich entsetzlich. „Immer, immer, wie in unserer Geschichte“, bettelte sie flehentlich und verbarg ihr Gesichtchen wieder in meiner Jacke.
Ich hatte nicht die geringste Vorstellung, was ich jetzt am besten tun sollte. Ich wagte kaum, sie zum Haus zurückzubringen. Ich fühlte, dass der Anblick des Mannes sich fatal auf ihr erschüttertes seelisches Gleichgewicht auswirken würde. Ich befürchtete, sie könne eine Ohnmacht oder einen Anfall erleiden, falls sie ihm zufällig über den Weg lief, wenn ich nicht bei ihr war. Über einen Punkt war ich mir dennoch schnell im Klaren.
„Ich schicke ihn sofort weg, Aileen“, sagte ich zu ihr. „Wenn du morgen aufwachst, wird er nicht mehr da sein. Deine Mutter wird ihn bestimmt nicht hier behalten.“
Diese Versicherung schien sie in einem gewissen Grad zu beruhigen, und zumindest gelang es mir, sie auf verborgenen Pfaden zum Haus zurückzubringen, auch wenn ich nicht gewagt hatte - wie es zuerst meine Hoffnung war - die ganze Geschichte aus ihr herauszubringen. Ich sah, wie sie die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer ging. Also übernahm ich es, die notwendigen Anordnungen zu erteilen. Sie durfte den Mann nicht mehr zu Gesicht bekommen. Aber warum fühlte ich da in meinem tiefsten Herzen den Wunsch, er möge irgendetwas Abscheuliches tun, damit ich die Möglichkeit hatte, sein Leben an der Wurzel abzuschneiden und ihn zu töten ...?
Doch meine Cousine, im höchsten Grade besorgt, machte schließlich einen vernünftig klingenden Vorschlag: Ich sollte das gepeinigte kleine Kind schon am nächsten Tag mit mir nehmen, nach Hartwich hinunterfahren und mit ihr - als absolute Veränderung und Ablenkung - für eine Woche auf die Nordsee hinausfahren.
Mittlerweile war ich zu der Überzeugung gelangt, dass das Experiment, zu dem ich mich neulich nicht hatte bereit erklären wollen, jetzt nicht nur erlaubt, sondern sogar notwendig war. Mit Hilfe von Hypnose wollte ich die Geschichte aus diesem heimgesuchten Geist hervorholen, ohne dass sie es mitbekam. Und vorausgesetzt, ich konnte sie tief genug in Trance versetzen, konnte ich zudem vielleicht die Erinnerung so vollständig aus ihrem Bewusstsein löschen, dass sie zumindest noch etwas vom Glück der Kindheit erfahren mochte.
Es war nach zehn Uhr abends und ich saß noch in der großen Halle vor dem Kaminfeuer und sprach mit gedämpfter Stimme. Meine Cousine saß mir gegenüber in einem tiefen Sessel. Wir hatten die Sache bis in alle Einzelheiten besprochen und das tiefe Unbehagen, das wir empfanden, überschattete nicht nur unsere Gemüter, sondern auch das ganze Gebäude mit Düsternis. Die Tatsache, dass keiner von uns die mögliche Unterstützung eines Arztes in Erwägung zog, sprach deutlich von dem Gefühl, das uns aufs Äußerste besorgte; ich meine das Gefühl, das aus dem lebhaften Anschein von Realität entsprang, der Allem anhaftete.
Keine bloße Fantasiegeschichte eines Kindes hätte uns in diesem Maß gefangen nehmen können, in einem Netz, das unsere Gedanken zu einem solchen Zustand der Verwirrung und Betroffenheit zusammengezogen hatte.
Es war für mich nun absolut nachvollziehbar, weshalb meine Cousine angesichts des entsetzlich überzeugenden Eindrucks, den die verhängnisvolle Not des kleinen Mädchens machte, von Hilflosigkeit überwältigt worden war. Aileen durchlebte keine Einbildung, sondern eine Realität. Dies war die Tatsache, welche die düsteren Hallen und Gänge hinter uns heimsuchte. Das ganze Gebäude war mir bereits verhasst.
Es schien bis zum Dach angefüllt mit den Erinnerungen an Wehmut und uraltes Leid, die mein Herz wie eisiger Wind umwehten.
Mit Absicht täuschte ich dennoch ein gewisses Maß an Heiterkeit vor und erwähnte meiner Cousine gegenüber mit keinem Wort, wie sehr mich gewisse Gefühle und Vorkommnisse angegriffen hatten. Ich sagte nichts davon, dass ich statt Lady Aileen Lady Helen gesagt hatte, nichts davon, dass sie mich Philip genannt hatte, nichts von dem plötzlichen Aufblitzen einiger Pseudoerinnerungen, als das Kind mich in seine Geschichte eingeschlossen hatte, und nichts davon, auf welch seltsame Weise ich diese Rolle angenommen hatte.
Ich hielt es auch nicht für klug alles zu erwähnen, was der Anblick des neuen Dieners mit seinem unheimlichen dunklen Gesicht, und die Art, wie er sich unbemerkt genähert hatte, in meinen Gedanken aufgewühlt hatte. Nichtsdestotrotz drangen diese Dinge ständig an die Oberfläche meines Bewusstseins und verrieten sich wohl zweifellos in meiner Atmosphäre , zumindest deutlich genug, dass die Intuition einer Frau sie erahnen konnte. Ich sprach nebenbei über das Zimmer , von Aileens seltsamer Abneigung dagegen und über ihre Bemerkung über das zur Wand sprechen . Befremdliche Gedanken bahnten sich unerbittlich ihren Weg in unser beider Bewusstsein. Von den Wänden der Halle starrten die ausgestopften Köpfe von Hirschen, Füchsen und Dachsen auf uns herab, als seien sie die Masken von Dingen, die unter ihrem Pelz und der toten Haut immer noch lebendig waren.
„Aber was mich noch mehr verwirrt, als all ihre anderen Einbildungen zusammengenommen“, sagte meine Cousine und blickte mich mit Augen an, die nicht den Anschein machten, dunkle Dinge zu verbergen, „ist ihre außerordentliche Kenntnis dieses Gebäudes. Ich versichere dir, George, es war das Unheimlichste, was ich je erlebt habe, als sie mich herumführte und Fragen stellte, als ob sie tatsächlich hier gelebt habe.“ Ihre Stimme sank zu einem Flüstern und sie schaute erschreckt auf. Für einen Moment hatte ich den Eindruck, etwas würde sich nähern, um zu lauschen, etwas, das sich heimlich durch die dunklen Gänge zur Halle heranschlich.
„Ich kann verstehen, dass dir das seltsam vorkam“, begann ich rasch. Aber sofort unterbrach sie mich. Offenbar verschaffte es ihr Erleichterung, diese Dinge zu sagen, sie aus ihrem Bewusstsein zu befreien, wo sie im Verborgenen immer größere Abscheulichkeiten ausbrüteten.
„George!“, schrie sie heraus. „Es gibt Grenzen für die Vorstellungskraft. Aileen weiß das. Das ist das Schreckliche ...“
Etwas stieg in meine Kehle. Meine Augen wurden feucht.
„Der Schrecken des Gürtels“, flüsterte sie, als verabscheue sie ihre eigenen Worte.
„Denk nicht daran“, sagte ich entschieden. Diese Einzelheit peinigte mich unsäglich bis an die Grenze des Erträglichen.
„Ich wollte, ich könnte das“, antwortete sie. „Aber wenn du den Ausdruck in ihrem Gesicht gesehen hättest, als sie sich dagegen wehrte, die Raserei, in die sie wegen der Lebensmittel und des Verhungerns geriet - ich meine, als Dr. Hale davon sprach - oh, wenn du das alles gesehen hättest, würdest du verstehen, dass ich ...“
Sie brach mit erneutem Erschrecken ab. Jemand hatte hinter uns die Halle betreten und stand im Eingang am entfernteren Ende. Der Lauscher war aus dem Dunkel zu uns herein gekommen. Theresa hatte, obwohl sie mit dem Rücken zu ihm saß, seine Gegenwart gespürt und sprang sofort auf.
„Sie müssen nicht länger aufbleiben, Porter“, sagte sie in einem Ton, der die fiebrige Besorgnis dahinter nur schwach verschleierte. Wir machen die Lichter selbst aus.“ Und der Mann zog sich wie ein Schatten zurück.
Sie wechselte einen raschen Blick mit mir. Die Atmosphäre der Düsternis, die mit dem Mann hereingekommen zu sein schien, war verflogen. Ich kann beim besten Willen nicht erklären, warum weder meine Cousine noch ich in den nächsten Minuten etwas zu sagen wussten. Aber ich glaube, es war ein noch größeres Rätsel, warum die Muskeln meiner Hände sich unwillkürlich mit solcher Kraft zusammenzogen, dass sich die Fingernägel in die Handflächen bohrten - und warum plötzlich der wilde Impuls durch mein Blut zuckte, mich auf den Mann zu werfen und ihm das Leben aus der Gurgel zu pressen, noch bevor er den nächsten Atemzug tun konnte. Ich habe noch nie zuvor, und auch nie wieder nachher, diesen offensichtlich grundlosen Wunsch verspürt, jemanden zu erwürgen. Ich hoffe, ich werde es auch nie wieder.
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