„Wir gehen hinein!“, sagte ich fest. „Und du wirst sehen, dass da nichts ist, wovor du dich fürchten müsstest.“
Ich öffnete die Tür und die Kerze hinter uns warf ein Dreieck aus Licht in die Dunkelheit. Es fiel auf den nackten Boden, die kahlen Wände und erreichte gerade so die hohe weiße Decke über uns. Ich stieß die Tür noch weiter auf und wir gingen Hand in Hand hinein. Aileen zitterte wie ein Blatt im Wind.
Selbst heute, wo ich dies niederschreibe, steht die Szene noch lebendig vor meinem geistigen Auge: Das kleine Mädchen in ihrem Nachthemd, das mir in diesem leeren Raum des alten Gebäudes gegenüberstand, mit all den leidenschaftlichen Gefühlen einer tragischen Geschichte in ihren Augen; ihre Mutter, die wie ein Geist im Gang draußen stand und nicht wagte hereinzukommen, die tanzenden Schatten, die die Kerze warf und die leisen Seufzer des Windes an den Außenmauern.
Ich machte einige weitere Gesten über ihrem kleinen, erröteten Gesicht und drückte meine Daumen an ihre Schläfen.
„Schlaf“, befahl ich. „Schlaf und erinnere dich!“
Mein Wille legte sich über ihren, um sie zu führen und zu beschützen. Sie versank noch tiefer in ihren Trancezustand, in dem sich die schlafwandlerische Klarsichtigkeit manifestiert und das tiefste Selbst aus seinem todesähnlichen Schlaf erwacht. Ihre Augen wurden größer und runder, erfüllt von Erinnerungen, als sie sich auf mich selbst richteten. Die Gegenwart, die vor einigen Augenblicken gedroht hatte, sie zu wecken und ihr Bewusstsein zu übernehmen, verschwamm. Sie sah mich nicht mehr als Onkel George, sondern als den treuen Freund und Liebhaber in ihrer großen Geschichte: Philip, der Mann der gekommen war, um sie zu retten.
Sie stand da, umwoben vom Dunst vergangener Tage, genau in dem Raum, in dem sie so großes Leid erfahren hatte - dem Raum, von dem aus drei Jahrhunderte zuvor ein Gang in jenen Flügel des Hauses geführt hatte, wo heute die Blutbuchen auf dem Rasen wuchsen.
Sie kam ganz dicht zu mir heran, schlang die dünnen, nackten Arme um meinen Hals und starrte mit forschenden, suchenden Augen in die meinen.
„Erinnere dich an das, was hier geschehen ist“, sagte ich energisch. „Erinnere dich und erzähle es mir.“
Ihre Brauen zogen sich leicht, wie vor Anstrengung zusammen. Sie blickte über ihre Schulter zu dem Ende des Raums, wo einst der Gang begonnen hatte und flüsterte:
„Es schmerzt etwas, aber ich - ich bin in deinen Armen, lieber Philip, und ich weiß, du wirst mich hier herausbringen ...“
„Ich halte dich fest, du bist in keiner Gefahr, meine Kleine“, antwortete ich. „Du kannst dich ohne Schmerz und Angst erinnern und darüber sprechen. Erzähl es mir.“
Die Suggestion wirkte sofort, denn ihr Gesicht klärte sich und sie entließ einen tiefen Seufzer der Erleichterung. Ich wiederholte die Handbewegungen, die ihren Trancezustand aufrechterhielten.
Dann begann sie mit einem gedämpften, silbrigen Ton zu sprechen, der mich durchbohrte wie eine Schwertklinge und mein innerstes verwundete. Ich glaubte, innerlich zu bluten. Ich hätte schwören können, dass sie von Dingen sprach, die ich so gut kannte, als hätte ich sie selbst durchlebt.
„Das war, als ich dich zum letzten Mal gesehen habe“, sagte sie. „Dies war der Raum, in den du gekommen warst, um mich zu holen, mich wegzubringen in Sicherheit und Glück, weg von - ihm.“ Es waren nicht mehr die Worte und die Stimme eines Kindes, die wir hörten. „Und hierher bist du gekommen in jener Nacht des Schnees und des Sturms. Durch dieses Fenster bist du hereingekommen.“ Sie deutete auf das schmale, zurückgesetzte Fenster hinter uns. „Kannst du den Sturm hören? Wie er heult und kreischt? Und das Donnern der Brandung unten am Strand? ... Du hattest die Pferde draußen stehen, die schnellen Pferde, die uns ans Meer bringen sollten, weg von all den Grausamkeiten. Und dann ...“ Sie zögerte und suchte nach Worten oder Erinnerungen. Ihr Gesicht verdüsterte sich vor Qual und Abscheu.
„Erzähl mir auch den Rest“, befahl ich. „Aber vergiss all deine eigene Qual.“ Und sie lächelte mit einem Ausdruck unglaublicher Sanftheit und Vertrauens zu mir auf, während ich ihre zerbrechliche Gestalt dichter an mich zog.
„Du erinnerst dich, Philip“, fuhr sie fort. „Du weißt genau, was geschah. Wie er und seine Männer dich in dem Augenblick ergriffen, als du hereinkamst. Wie du dich währtest und nach mir riefst und hörtest, wie ich antwortete ...“
„Von weit, weit draußen“, unterbrach ich sie rasch und half ihr mit einer Erinnerung, die in meinem tiefsten Herzen aufflammte und tiefe Wunden hineinzubrennen schien. „Du antwortetest vom Rasen aus!“
„Du glaubtest, es wäre der Rasen, aber weißt du, in Wirklichkeit war es dort, dort drin.“ sie zeigte auf die Seite des Raums rechts von mir. Sie zitterte entsetzlich und ihre Stimme wurde auf seltsame Art leiser, beinahe gedämpft, so als käme sie aus weiter Entfernung.
„Da drin?“, fragte ich mit einem Schaudern, das Eis und Feuer in meinem Blut vermengte.
„In der Mauer“, flüsterte sie. „Siehst du, jemand hatte uns verraten, und er wusste, dass du kommen würdest. Er mauerte mich lebendig dort drin ein und ließ nur zwei kleine Löcher für die Augen, sodass ich hinaussehen konnte. Du hast meine Stimme durch die Löcher gehört, aber nicht gewusst, wo ich war. Und dann ...“
Ihre Knie gaben nach und ich musste sie festhalten. Plötzlich blickte sie mit Qual in ihrem Blick zur entfernten Seite des Raums, in Richtung des alten Gebäudeflügels.
„Du wirst ihn nicht hereinlassen“, bat sie flehend, und in ihrer Stimme schwang die Qual des Todes. „Ich dachte, ich hätte ihn gehört. Sind das seine Schritte auf dem Gang?“ Sie lauschte ängstlich, ihre Augen versuchten die Mauern zu durchdringen und auf den Rasen zu blicken.
„Es kommt niemand, mein Herz“, sagte ich mit Überzeugung und Entschiedenheit. „Erzähle weiter. Sag mir alles.“
„Ich musste alles mit ansehen, denn ich konnte die Augen nicht schließen“, fuhr sie fort. „Um meine Taille war ein eisernes Band, das mich dort drin festhielt, ein eiserner Gürtel, aus dem ich mich niemals würde befreien können. Der Staub drang in meinen Mund und ich biss auf Stein. Meine Zunge war zerkratzt und blutete, aber bevor sie die letzten Steine setzten, um mich einzuschließen, sah ich - wie sie dir beide Hände abhackten, sodass du mich nie würdest befreien, mich nie herausholen können.“
Sie lief ohne Vorwarnung von mir weg, stürzte auf die Mauer zu, schlug mit beiden Händen dagegen und schrie laut:
„Oh, du armes, armes Ding. Ich weiß, wie schrecklich es war. Ich erinnere mich, wie ich in dir war und du mich trugst und beherbergtest - armer armer Leib! Dieses Knirschen des letzten Steins, als sie ihn gegen meinen Mund stießen, und die eiserne Klammer, die in meine Taille schnitt ... das Ersticken, der Hunger und der Durst!“
„Zu was sprichst du da drin?“, fragte ich ernst und unterdrückte meine Tränen.
„Zu dem Körper, in dem ich war, den, den er eingemauert hat - meinem Körper, meinem eigenen Körper!“
Sie flog zurück an meine Seite. Doch noch, bevor meine Cousine jenen Mutterschrei ausgestoßen hatte, der in das Unterbewusstsein des Kindes brach und ihre Erinnerung verwirrte, hatte ich mit aller Kraft meines Ichs den Befehl gegeben, die Qual zu vergessen . Nur die Wenigen, die mit den unvermittelten Gefühlsänderungen vertraut sind, die durch Suggestion während der Hypnose bewirkt werden können, werden verstehen, dass Aileen von diesem Augenblick des In-die-Wand-Sprechens mit einem Lachen in ihren Augen und auf ihren Lippen zu mir zurückkehrte. Die kleine weiße Gestalt, deren dunkles Haar wie eine Kaskade über das Nachthemd floss, rannte herbei und fiel mir in die Arme.
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