„Lebensmittel?“, rief ich aus und erwartete einen weiteren krampfhaften Schmerz.
„Als es mir Stunden später gelang, sie dazu zu überreden wieder herauszukommen, zitterte sie wie Espenlaub und fiel mir in die Arme. Sie war restlos erschöpft, und alles, was ich aus ihr herausbrachte, war dies - sie wiederholte es immer und immer wieder, in einem so flehenden Ton, dass mir das Herz blutete ...“ Sie zögerte einen Moment.
„Sag es mir - sofort!“
Ich werde wieder verhungern, ich werde wieder verhungern!, das waren die Worte, die sie rief. Sie wiederholte sie immer wieder unter Schluchzen. Ich werde nichts zu essen haben. Ich werde verhungern! Und du wirst es nicht glauben, während sie sich im Kinderzimmer im Schrank versteckte, hatte sie so viel Kuchen und alles in ihren kleinen Körper gestopft, dass sie mehrere Tage lang schlimm krank war. Und außerdem - seitdem hasst sie den Anblick von Dr. Hale - armer Kerl - dass es zwecklos für ihn ist, sie zu besuchen. Es richtet mehr Schaden an, als es nützt.“
Ich war aufgestanden und ging im Raum auf und ab, während sie mir dies erzählte. Ich bemerkte nur wenig dazu. In meinem Geist rasten und tobten seltsame Gedanken, ragten plötzlich vor mir auf, emporgestiegen aus den unergründlichen Tiefen des Schattens. Ich fand dennoch nichts Bedeutungsvolles zu sagen, denn Theorien und Spekulationen nützen nur wenig als praktische Hilfe.
„Und der Rest?“, fragte ich sanft, indem ich hinter ihren Stuhl trat und beide Hände auf ihre Schultern legte. Sie erhob sich sofort und schaute mich an. Ich fürchte, ich zeigte zu viel Mitleid, um zu verhindern, dass ihr die Tränen kamen.
„Oh, George“, rief sie aus, „ich bin so froh, dass du gekommen bist. Du bist so stark und so beruhigend. Es gibt mir Mut, deine starken Hände auf meinen Schultern zu fühlen. Aber weißt du - ganz offen und ehrlich - die Angst um das Kind bringt mich fast um den Verstand ...“
„Du wirst natürlich nicht hier bleiben?“
„Wir reisen Ende der Woche ab“, erwiderte sie. „Ich weiß, dass du mich bis dahin nicht allein lassen wirst. Und Aileen wird es gut gehen, solange du da bist. Du übst einen außerordentlich guten Einfluss auf sie aus.“
„Preise ihre kleine leidende Einbildungskraft“, sagte ich. „Du kannst auf mich zählen. Ich lasse heute Abend meine Sachen aus der Stadt kommen.“
Und dann erzählte sie mir von dem Zimmer. Es war eigentlich eine ganz simple Geschichte, und doch vermittelte sie mir noch stärker die schreckliche Gewissheit von etwas Wirklichem, als alle anderen Einzelheiten zusammengenommen. Es gab da nämlich einen Raum im Erdgeschoss, der für nasse Tage gedacht war, wenn es mit dreckigen Stiefeln zu weit zum Kinderzimmer war - und Aileen konnte diesen Raum nicht betreten.
Warum?
Niemand wusste es. Tatsache war, dass, als das Kind zum ersten Mal hineingelaufen war, ihre Mutter dicht hinter ihr, es plötzlich stehen geblieben war, geschwankt hatte und beinahe gestürzt wäre. Dann hatte sie sich mit Schreien, die selbst die Gärtner hörten, die draußen den Kiesweg harkten, mit dem Kopf voran gegen die Wand, das heißt, gegen eine bestimmte Stelle der Wand geworfen, und mit ihren kleinen Fäusten dagegen gehämmert, bis die Haut platzte und die Tapete Blutflecken aufwies. Das geschah in weniger als einer Minute. Meine Cousine war zu schockiert und entgeistert, um sich an die Worte zu erinnern, und vermutlich hatte sie sie gar nicht richtig verstanden. Aileen war völlig aus der Fassung, während sie ziellos versuchte, aus dem Raum zu fliehen. Als ihr die Flucht schließlich gelang, brach sie draußen auf dem Gang in einer tiefen Ohnmacht zusammen.
„Nun, sind das alles nur Hirngespinste?“, flüsterte Theresa. Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Lippen zitterten. „Ist das alles nur Teil einer Geschichte, die sie sich ausgedacht hat und in der sie eine Rolle spielt?“
Wir schauten uns für einige Sekunden unverwandt in die Augen. Die Furcht im Herzen der Mutter schien auf mich überzuspringen und in mir selbst einen Schrecken hervorzurufen - einen Schrecken von anderer Art, aber noch größer.
„Für heute ist es zu spät“, sagte ich schließlich. „Es würde sie nur unnötig aufregen. Aber morgen werde ich mit Aileen sprechen. Und“, fügte ich hinzu, „wenn es vernünftig erscheint - kann ich ihr vielleicht - vielleicht noch auf andere Weise helfen.“
Also sprach ich mit ihr am folgenden Tag.
Ich hatte immer das Zutrauen dieses kleinen, dunkeläugigen Mädchens besessen. Zwischen uns herrschte eine Vertraulichkeit, die unsere Unterhaltungen und Spiele außerordentlich vergnüglich machte. In der Regel - ohne dass ich dafür eine befriedigende Erklärung finden konnte - bevorzugte ich es, im Sonnenschein mit ihr zu reden. Es war nichts Unheimliches an ihr - gesegnet sei ihr kleines, seltsames und geheimnisvolles Herz - aber sie hatte eine Art, andere Wege des Lebens und Daseins anzudeuten, die meinen Blick in die Dunkelheit lenkte und mich fragen ließ, was sich hinter den Schatten verbergen mochte oder hinter der nächsten Ecke wartete.
Wir waren auf dem Rasen, wo die buschigen Eiben dichte Schatten warfen. Die milde Luft ließ daran denken, draußen einen Tee, zu nehmen, meine Cousine hatte einige Ferngespräche erhalten und war außer Haus. Aileen hatte sich von selbst eingefunden und befasste sich auf eine Art und Weise mit meinen Manuskripten, die mich irritierte; denn ich hatte ihr meine Märchen vorgelesen und sie hatte mir immer wieder Fragen gestellt, die meine begrenzten Fähigkeiten beschämten. Ich erinnere mich auch, dass ich ganz froh darüber war, dass der Collie ständig um uns herumlief, hinter den Schwalben auf dem Rasen her jagte und sie anbellte.
„Nur ein paar von deinen Geschichten sind wahr, stimmt's?“, fragte sie plötzlich.
„Woher weißt du das, kleine Kritikerin?“ Ich hatte abgewartet, bis sie das Gespräch eröffnete. Jede Aufforderung meinerseits hätte sie vielleicht misstrauisch werden lassen.
„Oh, ich bin mir sicher.“
Dann kam sie zu mir und ohne die leiseste Ermunterung meinerseits flüsterte sie: „Onkel, es ist doch wahr, dass wir zusammen schon an anderen Orten waren, nicht wahr? Und sind es nicht die Dinge, die wir dort getan haben, die in den wahren Geschichten stehen?“
Diese Eröffnung kam mir außerordentlich gelegen und spielte mir perfekt in die Hände.
Ich kann aber nicht begreifen, wie es kam, dass ich darauf so seltsam reagierte; ich meine, wie es kam, dass die Worte und der Name ohne mein Zutun herausschlüpften, so, als ob ich im Traum redete.
„Gewiss, kleine Lady Aileen, denn weißt du, in unserer Fantasie sind wir ...“
Doch bevor ich den Satz, mit dem ich hoffte, ihre innerliche Not hervorzulocken, vollenden konnte, warf sie sich über mich.
„Oh“, schrie sie in einem unvermittelten, leidenschaftlichen Ausbruch. „Also kennst du meinen Namen? Du kennst die ganze Geschichte - unsere Geschichte!“
Sie war äußerst aufgeregt, ihr Gesicht gerötet und ihre Augen bewegten sich unruhig. Alle Empfindungen eines bis zum Rand mit Erfahrungen angefüllten Lebens brausten durch ihre kleine Person.
„Natürlich kenne ich deinen Namen, Fräulein Erfinderin“, sagte ich rasch, verwirrt und mit einer plötzlichen, unangenehmen Betroffenheit, die mir die Kehle zuschnürte.
„Und alles, was wir hier getan haben?“, fuhr sie fort und deutete mit steigender Aufregung in Richtung der dicken, efeuberankten Mauern des alten Hauses.
Meine eigene Unruhe wuchs jäh, ein flüchtiges, undeutliches Unbehagen, das all meine Berechnungen durcheinanderwarf. Denn plötzlich ging mir auf, dass ich, als ich sie Lady Aileen nannte, den Namen nicht korrekt ausgesprochen hatte. Meine Zunge hatte mir einen Streich mit den Konsonanten und Vokalen gespielt, obwohl mir, als ich sie aussprach, der Unterschied nicht aufgefallen war. Aileen und Helen klangen fast gleich; und tatsächlich hatte ich Lady Helen gesagt.
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