Doch bevor ich die richtigen Worte fand, fühlte ich, wie sie sich an meine Seite schmiegte und die Worte hervorbrachte, von denen ich lange Zeit in den geheimen Tiefen meiner Seele, gefürchtet hatte, dass sie sie sagen würde. Der Satz schien mein Inneres zu erschüttern. Ich erlebte einen schnell dahin rasenden Augenblick unaussprechlichen Schmerzes, der sich jeder verstandesmäßigen Erklärung entzog.
„Weißt du“, sagte sie, „es ist, weil du Philip bist.“
Und die Art, wie sie es sagte, so leise, ihre Worte irgendwie gefärbt von sanftem, von Mitgefühl aufgezehrten Hohn, doch vergoldet durch eine brennende Liebe, die ihre kleine Person ganz erfüllte - raubte mir für einen Moment die Kraft zu sprechen. Ich konnte mich nur zu ihr herab neigen, meinen Arm um sie legen und ihr einen Kuss auf den Kopf zu drücken, der mir kaum bis ans Kinn reichte. Ich schwöre, dass ich dieses Kind liebte, wie ich noch nie ein anderes menschliches Wesen geliebt hatte.
Ich erinnere mich, wie ich in einem gutgemeinten aber ungeschickten Versuch sagte: „Dann wird Philip dir all die fröhlichen Abenteuer mit seinen neuen Händen erzählen. Er ist jetzt nicht mehr traurig, sondern überglücklich, und er liebt dich doppelt so viel wie jemals zuvor.“
Ich hob sie auf und trug sie die lange Treppe hinunter in den Garten, wo wir mit den Hunden herumtollten, bis das Gesicht von Kempster oben im Fenster auftaucht und irgendetwas Dummes über Abendessen, Ins-Bett-gehen und all das zu uns herabrief. Aileen, jetzt mit gerötetem Gesicht und leuchtenden Augen, lief ins Haus. In der Tür drehte sie sich noch einmal um und zeigte mir ihr seltsames, kleines, von Lachen und Fröhlichkeit strahlendes Gesicht.
Lange Zeit ging ich Zigarre rauchend zwischen den Buchsbaumhecken des alten Gartens auf und ab. Ich dachte über das Kind, seine verschrobene Einbildungskraft, und über die bewegenden und beunruhigenden Empfindungen, die sie in mir hervorrief, nach. Ihr Gesicht schien um mich herum, durch die Schatten zu huschen. Genau genommen war sie nicht hübsch, aber ihre Erscheinung vermittelte einen eigenartigen Zauber, der eine starke Anziehungskraft auf mich ausübte.
Sie hatte einen großen Kopf, der irgendwie altmodisch wirkte, dunkle, aber nicht große Augen, die nahe beieinander standen, und einen breiten Mund, der eindeutig nicht hübsch war. Aber der Ausdruck unglücklicher, verlangender Leidenschaft, der sich manchmal über ihre sonst wenig anziehenden Züge legte, verlieh ihrer Erscheinung eine unvermittelte Schönheit, eine Schönheit der Seele, einer Seele, die Leid erfahren und den Kummer kennengelernt hatte.
Das ist zumindest die Art, wie mein eigener Geist dieses Kind sah, und somit der einzige Weg, auf dem ich hoffen kann, Anderen ein Bild von ihr zu geben. Wäre ich ein Maler, hätte ich sie vielleicht auf die Leinwand gebannt. Ein imaginäres Portrait, dem ich vielleicht den Namen Reinkarnation gegeben hätte; denn nie habe ich im Umgang mit Kindern etwas gesehen, das mich so lebhaft auf den seltsamen Gedanken brachte, eine dahingegangene Seele zu erblicken, die zurück in die Welt gekommen war - in einem neuen, jungen Körper, in neuen Kleidern.
Aber als ich nach dem Abendessen mit meiner Cousine sprach und sie mit der Versicherung tröstete, dass Aileen über eine ungewöhnlich lebhafte Einbildungskraft verfügte, die durch die Zeit und uns selbst in vernünftigere Bahnen gelenkt werden müsse - während ich ihr all das und noch mehr sagte, klangen mir immer zwei Sätze im Kopf, die das Kind gesagt hatte. Der eine, als sie mir mit gnadenloser Auffassungsgabe sagte, dass ich mir nur Geschichten ausdachte, und der andere, als sie mir mit stiller Gewissheit mitteilte, dass Philip - ich selber sei.
Eine Großwildjagd unterbrach meine onkelhafte Verantwortung für einige Monate, zumindest was meine tätige Anteilnahme betraf, denn da waren doch einige Erinnerungen, die trotz der vielen Ablenkungen unseres turbulenten Lagerlebens seltsam lebendig blieben. Oftmals, wenn ich wach in meinem Zelt lag, und sogar wenn wir der Fährte eines Wildes durch den Dschungel folgten, überkamen mich diese Bilder und forderten meine Aufmerksamkeit. Aileens kleines, von Leid gezeichnetes Gesicht drängte sich zwischen mich und mein Jagdgewehr. Oder ihre Versicherung, dass ich der Philip ihrer Fantasien sei, die mir mit dem einem Anschein von Wirklichkeit entgegentrat, der mich äußerst seltsam berührte, bis ich ihn weganalysierte. Mehr als einmal dachte ich an die düstere und ernsthafte Haltung, mit der sie mir erzählt hatte, wie Philip sie bis zum Ende geliebt habe und sie sicher gerettet hätte, wenn sie ihm nicht die Hände abgehauen hätten. Es schien, dass meine eigene Einbildungskraft die Einzelheiten ihrer kindlichen Erfindungen zu einer Geschichte wob, denn ich konnte niemals an dieses letztere Detail denken, ohne einen regelrechten quälenden Schmerz in meinen Handgelenken zu fühlen ...!
Als ich im Frühjahr nach England zurückkehrte, stellte sich heraus, dass sie in ein Haus am Meer umgezogen waren; eher eine baufällige Krähenkolonie, als ein Gebäude, das der Vater meiner Cousine in seinem Leben nur selten bewohnt hatte. Sie selbst hatte noch keine Gelegenheit dazu gefunden, seit es in ihren Besitz übergegangen war. Ein dringlicher Brief rief mich dorthin und so reiste ich schon am nächsten Tag nach meiner Rückkehr an die öde Küste von Norfolk. In meinem Herzen fühlte ich eine düstere Erwartung, die sich fast zu einer Vorahnung steigerte, als das Taxi in die lange Einfahrt bog und ich die grauen und bedrückenden Mauern des alten Herrenhauses erblickte. Die Seeluft erfüllte den Garten mit ihrem salzigen Dunst und das Rauschen der Brandung drang herauf bis an die Fenster.
„Ich frage mich, was in sie gefahren ist, hierher umzuziehen“, war der erste Gedanke, der mir in den Sinn kam. „Das ist wirklich der letzte Ort in der Welt, an den man ein kränkliches, übersensibles Kind bringen sollte.“
Meine anfängliche Befürchtung, dass dem kleinen Kind, das ich so zärtlich liebte, irgendetwas passiert sei, wurde indes teilweise zerstreut, als sie mich mit offenen Armen und lächelndem Gesicht an der Tür empfing, auch, wenn ich bald herausfand, dass dieses Willkommen hauptsächlich in der Erleichterung begründet war, die sie durch meine Anwesenheit empfand.
Etwas war mit der kleinen Aileen geschehen, wenn auch nicht die endgültige Katastrophe, die ich zunächst befürchtet hatte.
Aileen hatte während meiner Abwesenheit einige Nervenattacken erlitten, die so ernst waren, dass der Arzt darauf bestanden hatte, sie der Seeluft auszusetzen; und meine Cousine, nicht mit großem Urteilsvermögen gesegnet, war auf den Gedanken gekommen, das alte Haus für diesen Zweck zu nutzen. Sie hatte einen Flügel so weit hergerichtet, dass er für einige Wochen bewohnbar war und hoffte, dass der Wechsel der Umgebung das kleine Mädchen auf neue und fröhlichere Gedanken bringen würde. Doch stattdessen war genau das Gegenteil geschehen. Das Kind hatte hysterisch zu weinen begonnen, sobald es die alten Mauern erblickt und den Geruch des Meeres wahrgenommen hatte.
Noch bevor meine Cousine und ich zehn Minuten miteinander gesprochen hatten, hörten wir einen Schrei und das Geräusch hastender Schritte. Eine Gestalt mit fliegenden schwarzen Haaren stürzte herein, warf sich mit dem Kopf voran in meine Arme und - Aileen schluchzte.
„Oh, du bist gekommen, du bist endlich gekommen! Ich bin so furchtbar glücklich. Ich dachte, es würde wieder das Gleiche geschehen und du würdest gefangen werden!“ Dann wandte sie sich von mir ab und küsste ihre Mutter, lachte glücklich unter Tränen und eilte so plötzlich, wie sie gekommen war, wieder hinaus. Ich fing einen ängstlich-erstaunten Blick meiner Cousine auf.
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