„Da hinten, am Horizont, schau doch!“
Karins Kopf erschien neben ihm und deutete dorthin, wo sich aus hellen Nebelschwaden die ersten Umrisse eines Häusermeeres erkennen ließen. Mit viel Phantasie konnte man die Silhouette des wohl berühmtesten Bauwerkes der Welt erkennen. Klaus nickte fast unmerklich und hielt seinen Blick weiter auf die vorbeiziehende Vorstadt gerichtet. Plötzlich stellte er fest, dass das Bild sich veränderte. Die enge Bebauung wurde lichter und nachdem einen kurzen Moment lang nur Felder zu sehen waren, kamen nun hässliche Hochhäuser in Sicht. Dicht an dicht ragten sie in den grauen Himmel und die dreckigen Fassaden mit ihren blinden Fenstern schauten auf die Gleise hinab wie stumme Beobachter. Nur hie und da durchbrach ein buntes Wäschestück, das auf einem der zahllosen Balkone im Wind flatterte, die düstere Atmosphäre. „Mhm“, machte Klaus, und Karin ließ sich mit einem genervten Seufzer zurück in ihren Sitz fallen.
„Ich hoffe, deine Laune bessert sich, sobald wir in der Stadt sind“, murmelte sie hinter ihrem Reiseführer hervor und machte es sich wieder auf ihrem Platz bequem. „Ich freue mich schon so sehr auf Paris und du wirst sehen, es wird dir auch gefallen. Ich verspreche es!“
„Schon gut, es tut mir leid“, presste er hervor und warf einen letzten Blick auf die trostlosen Wohntürme, die scheinbar endlos draußen vorbeizogen. „Du weißt, ich mag keine fremden Städte, schon gar keine, die größer sind als Frankfurt.“ Er drehte sich so, dass er Karin direkt in die Augen blicken konnte. „Es passiert immer soviel Schlimmes in solchen Metropolen. Wir kennen uns nicht aus und ich fühle mich dann einfach unwohl. Was, wenn wir uns verlaufen und in eine gefährliche Gegend geraten?“ Er seufzte und schloss für einen kurzen Moment die Augen. „Ach, ich weiß auch nicht, mir ist irgendwie nicht ganz wohl bei der Sache.“
Karin sah ihn an und fuhr ihm zärtlich mit der Hand über die blonden Locken. „Sei doch nicht immer so ängstlich, mein Schatz“, flüsterte sie. „Es wird wundervoll werden, das verspreche ich dir. Diese Stadt muss ein Traum sein, die Gebäude, die Prachtstraßen und die herrlichen Plätze!“ Sie richtete sich ein wenig in ihrem Sitz auf und ihre Augen blitzten vor Unternehmungslust. „Wir werden uns unter die Pariser mischen und in kleinen, gemütlichen Bistros auf Stühlen sitzen, die auf den Bürgersteigen stehen, stell dir nur vor!“ Sie lachte aufgeregt. „Man sitzt dort tatsächlich zum Kaffeetrinken und sogar zum Essen auf dem Trottoir!“
Klaus konnte sich ihrer Fröhlichkeit nicht länger entziehen und schlug sich entschlossen mit beiden Händen auf die Oberschenkel. „Also los, ma chérie, dann lass uns die französische Hauptstadt erobern. Paris, wir kommen!“ Er zog seine lachende Freundin in die Arme und gab ihr einen langen und zärtlichen Kuss. Doch als er sein Kinn auf ihren Kopf legte, schaute er hinaus in den regengrauen Himmel und sein Blick richtete sich beunruhigt und wie in düsterer Vorahnung auf die sich nähernde Stadt.
„Pardon!“ Mit einer entschuldigenden Kopfbewegung schaute der Herr vor ihm über die Schulter und entfernte sich eiligen Schrittes über den Bahnsteig. Er wechselte den Koffer, mit dem er Klaus gerade einen unbeabsichtigten Schubser versetzt hatte, von der rechten in die linke Hand und hob ihn kurz an, als wolle er neue Kraft schöpfen.
„Schon gut“, murmelte Klaus und warf einen grimmigen Blick in Richtung des sich entfernenden Rückens. Karin hatte von all dem nichts mitbekommen. Sie lief, getrieben von ihrer überschäumenden Energie und in wilder Vorfreude auf Paris, schon einige Schritte vor ihm und drehte sich nun ungeduldig zu ihm um. „Wo bleibst du denn?“, rief sie ihm von weitem zu und er sah, wie sehr sie strahlte.
Sie fügt sich ins Bild, als würde sie dazu gehören und hätte niemals irgendwo anders hin gehört als in diese Stadt, schoss es Klaus durch den Kopf. Er rang sich ein kleines Lächeln ab: „Komme ja schon, ich habe hier schließlich ein paar Kilo zu schleppen.“
Klaus lief den Bahnsteig entlang, im dichten Strom der anderen Fahrgäste, die auf halbem Wege von ihren Lieben begrüßt und umarmt wurden. Erschrocken wich er den ganz in schwarz gekleideten Männern aus, die mit kleinen, rollenden Holzwägen den Zug ansteuerten. Er konnte sich nicht vorwerfen, dass er sich nicht bemüht hatte. Während der ganzen restliche Zugfahrt war er für sie, Karin, seine große Liebe, der abenteuerlustige, positiv denkende und vergnügte Freund gewesen. Fröhlich und unbeschwert. Sie hatten gemeinsam Pläne geschmiedet, wie sie ihre Tage in Paris verbringen wollten und Karin war unruhig und voller Aufregung in ihrem Sitz hin und her gerutscht.
Und nun, da sie angekommen waren, fühlte sich Klaus, als würde sich ein Schatten über seine Augen legen. Alles schien ein paar Nuancen dunkler zu werden. Die Farben verblassten und die Geräusche des geschäftigen Treibens an der Gare de l‘Est erreichten nur gedämpft seine Ohren. Was ist nur mit mir los? fragte er sich. Warum habe ich nur immer so große Angst? Inzwischen hatte er Karin erreicht. Sie stand inmitten der Bahnhofshalle, direkt unter der großen Anzeigentafel, auf der die abfahrenden und ankommenden Züge aufgelistet waren. Gerade war wieder ein Zug abgefahren und die grauen Blättchen mit all den Zahlen und Buchstaben gaben laut klappernd die neuen Informationen frei.
„Da hinten, siehst du, da geht es zur Metro hinunter.“
Karin fasste seinen Arm und warf ihm einen schnellen, und wie ihm schien, prüfenden Blick zu. „Komm Klaus“, sagte sie, „wir müssen uns erst Fahrkarten besorgen.“
Er sah die Vorfreude in ihrem Gesicht, sah, wie ihre blauen Augen leuchteten und ihre Füße vor Ungeduld in ständiger Bewegung zu sein schienen. Reiß dich zusammen, befahl ihm eine innere Stimme und er nahm all seine Kraft zusammen, fasste die Hand seiner Freundin und grinste sie herausfordernd an: „Na dann schauen wir mal, ob dein Schulfranzösisch dafür noch ausreicht.“
Ein paar Minuten später löste Karin sich aus dem Menschenpulk an der Spitze der Schlange, die sich am Fahrkartenschalter gebildet hatte, und winkte ihm schon von weitem mit den Tickets zu. „Es kann losgehen“, lachte sie, „und ich habe uns auch gleich einen Metroplan mitgebracht.“
Sie faltete ein kleines Stück Papier auseinander. „Schau doch nur, das ist ja niedlich“, sagte sie und bemühte sich, die kleinen Linien und Stationen, die auf dem Miniaturplan verzeichnet waren, zu entziffern. „Siehst du, hier müssen wir hin.“ Ihr in einem hellen Rosé manikürter Fingernagel tippte auf eine kaum zu erkennende Station in der Mitte des Plans. „Und dort“, derselbe Finger schwebte eine Weile über dem Papier, „ist die Endstation der Linie, die wir nehmen müssen. Danach orientieren wir uns, weißt du, sie gibt die Fahrtrichtung an.“
Klaus ließ sich seine Unruhe nicht anmerken. Entschlossen ergriff er das Billet und schaute nach dem Eingang, der das Bahnhofsareal von den verzweigten unterirdischen Gängen der Pariser Metro trennte. Karin ging voran und er folgte ihr eilig. Er streckte das gelbe Kärtchen dem Uniformierten entgegen, der in einem kleinen Verschlag saß und ihm das Ticket, nachdem er es entwertet hatte, mit einem freundlichen „Bonne journée“ wieder zurückgab. Einige Minuten später saßen Klaus und Karin auf grauen Klappsitzen in der Metro der Linie 5 Richtung Place de l‘Italie und starrten durch die schmutzigen Scheiben der Türen direkt neben ihnen. Draußen flogen die dunklen Wände des Tunnels vorbei und wurden von hell erleuchteten Stationen abgelöst, deren Namen auf großen blauen Schildern in weißer Schrift zu lesen waren. Die unterirdischen Haltestellen kündigten sich schon einige Meter vorher durch anhaltendes Quietschen der stählernen Räder an. Ihr Wagen leerte und füllte sich wieder und schließlich gab ein anhaltender Signalton die Weiterfahrt an. Karin hatte sich tief über den Metroplan gebeugt und verglich die Stationen, an denen sie bereits vorbei gefahren waren, mit der orangefarbenen Linie auf ihrer Karte.
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