Aleta tänzelte leichtfüßig über den mit bunten Bildern verzierten Boden. Dieses Mal trug sie ein hauchdünnes zart rosa Kleid, das leicht ihren Körper umspielte. Schmetterlinge hatten sich dazu, wie als Schmuckelement, auf dem linken Träger ihres Gewandes versammelt und zeigten durch langsames Schlagen ihrer Flügel, dass es sich um Lebewesen handelte. Versonnen hielt sie schließlich in ihrem Tanz inne und betrachtete nachdenklich ein Gemälde, das eine Karte der anderen Länder darstellte. Im Süden lag Thaliyand, ihre Heimat, daran angrenzend im nördlicheren Westen das Land der Wolfsherzen, in der Mitte das unabhängige Kapitall, im nördlicheren Osten das Land der Freibeuter mit dem großen Schwarzsee, der fast die Fläche eines Meeres einnahm und schließlich ganz im Norden jenseits der nördlichen nordischen Wälder, welche die natürliche Grenze zum Land der Wolfsherzen darstellte, das Felsengebirge.
„Ich möchte das alles einmal sehen und die Menschen, die dort leben kennen lernen“, sagte sie und wandte sich ihrer Mutter und deren Gefährten zu, die gemeinsam auf den großen pinken und grünen Kissen aus Seide lagen, die anstelle eines Throns auf einer Erhöhung im südlichen Teil des Saales angeordnet waren.
Erschreckt setzte sich Königin Lilijana auf.
„Nein“, ihr bestimmender Ton ließ keinen Widerspruch zu, „es gibt keinen Grund, dass du das alles erfahren sollst. Hier ist der Ort, an dem du hingehörst, der dir alles bietet, was du brauchst und der dir Glück und Zufriedenheit beschert.“
Leichtfüßig eilte sie zu ihrer Mutter und ließ sich zu deren Füßen auf eine Treppenstufe sinken. Die Schmetterlinge waren durch ihre Eile in Bewegung geraten, so dass sie sich jetzt erst einmal wieder auf ihrem Kleid ordnen mussten.
„Aber findet Ihr es denn nicht traurig, dass wir so wenig Kontakt zu den anderen haben? Wir könnten sicher viel voneinander lernen.“
Lilijana wechselte einen viel sagenden Blick mit Fayn, ihrem Gefährten.
„Es hat gute Gründe, dass wir uns von den anderen absondern. Es reicht vollkommen aus, dass König Karlus beim Sommersonnwendfest zum jährlichen Austausch zu uns kommt. Außerdem ...“
Sie wurde unterbrochen von Finnroth, der in voller Rüstung, seinen Helm unterm Arm, den Thronsaal betrat.
„Ich werde mit Faramin und Sandro die Grenzen abreiten. Wir sind zum Abendrot wieder zurück.“
Er verneigte sich kurz und verschwand so schnell, wie er gekommen war.
„Wieso darf er zumindest einen Blick in die mir so fremden und interessanten Länder werfen und ich muss hier im Palast bleiben?“ Trotz ihrer siebzehn Jahre wirkte die Prinzessin in diesem Moment wie ein trotziges Kind.
Lilijana strich ihrer Tochter versöhnlich über die hellbraunen Locken, die in der Sonne golden schimmerten.
„Weil dein Bruder durch seine besonderen Fähigkeiten Eindringlinge entdecken kann, bevor er selbst entdeckt werden würde. Dazu ist er einer der besten Ritter, die wir haben und wir können froh sein, dass er immer für unsere Sicherheit sorgen wird.“
Die Königin küsste Aleta die Stirn. „Wir haben hier doch alles, was wir uns nur wünschen könnten. Ein schönes Zuhause, den Strand, das Meer. Wir haben das ganze Jahr Sonnenschein und Früchte im Überfluss. Glaube mir, mein Kind, der Rest der Welt ist nicht erstrebenswert erkundet zu werden.“
Tausende von Kerzen in den Kronleuchtern an der Decke und in den kunstvoll geschmiedeten Lüstern an den Wänden tauchten den großen Saal in warmes goldenes Licht. Die schweren Damastvorhänge vor den bis zum Boden reichenden großen Sprossen-Fenstern sperrten die eiskalte Winternacht hinaus und machten die Menschen drinnen vergessen, dass die Kälte draußen alles totengleich erstarren ließ.
Die besten Musikanten aus dem ganzen Land waren gekommen und hatten ihre wertvollen Instrumente an einem der kurzen Seiten des rechteckigen Saales aufgebaut. Ihre Klänge brachten die Gäste, die bereits eingetroffen waren, in eine heitere Stimmung.
Weine, weiß und rosé, aus den besten Anbaugebieten rund um Kapitall sollten ihr Übriges tun, ein rauschendes Fest zu veranstalten. Die ganze Woche waren Vorkehrungen getroffen worden. Sämtliche Gänge, Flure und Winkel im gesamten Schloss waren auf Hochglanz gebracht worden, auch jene Ecken, in die sich sicherlich keiner der Gäste jemals verirren würde. Feinste Stoffe, edle Gefäße und teure Teppiche waren angeliefert und an den rechten Platz gerückt worden. Doch der Höhepunkt war die mehrere Meter hohe tiefgrüne Benedictus-Fichte, die in der Mitte des Saales stand und mit Sternen, Kristallen und Figuren aus Glas und Zinn sowie mit Kerzen geschmückt war. Diese Tradition ging auf König Benedictus zurück, einem der ersten Könige Rothwalds. Eines harten Winters, als die Welt herum erstarrt zu sein schien und viele Menschen und Tiere starben, weil sie erfroren oder verhungerten, sollte es für die Wolfsherzen noch schlimmer kommen. Plünderer suchten Rothwald heim. Keiner wusste woher sie kamen, doch sie verwüsteten die Dörfer und nahmen den Menschen das Wenige, was sie zum Überleben noch hatten. Der harte Winter hatte auch vielen Soldaten das Leben gekostet und so war das militärische Aufgebot des Königs den Plünderern zahlenmäßig unterlegen. Da geschah es, dass die Wölfe aus den Wäldern den Wolfsherzen zu Hilfe kamen. Mensch und Tier gemeinsam vertrieben die Plünderer aus Rothwald. Und seitdem waren nie mehr Fremde ins Land eingefallen. Zum Dank für die Hilfe erließ Benedictus ein Gesetz, das die Wölfe schützte. Nicht vor den eigenen Leuten. Das war nicht notwendig, denn die Menschen und die Tiere von Rothwald verband jeher eine unergründliche Verbundenheit. Das Gesetz, das in der unabhängigen Stadt Kapitall für jeden als geltend festgeschrieben wurde, besagte, dass ein Wolf in Rothwald weder gejagt, noch gefangen, noch getötet werden dürfte. Zur Ehre der Wölfe und des Waldes und zur Erinnerung an die Rettung wurde jedes Jahr im Winter ein Fest gefeiert, an dem diese Fichte aufgestellt und geschmückt wurde. Doch auch die Tiere demonstrierten ihre Verbundenheit mit den Wolfsherzen, indem die Leitwölfin eines ihrer Jungen dem König zur Aufzucht und Obhut überbrachte. Dies taten auch sie einmal im Jahr. Mit der Zeit jedoch war diese Geschichte immer mehr zu einem Mythos geworden. Niemand konnte mehr sagen, ob es sich tatsächlich so zugetragen hatte, wie man sich erzählte. Das Gesetz gab es, das war aber auch der einzige richtige Beweis für die Wahrheit des Mythos. Schon länger war kein Wolfswelpe mehr im Schloss aufgezogen worden. Trotzdem wurde das Fest auch nach Generationen immer noch gern gefeiert und auch das Gesetz wurde beachtet, auch wenn es deswegen wie zuletzt zu schwerwiegenden Konsequenzen kommen konnte.
Die Wolfsherzen liebten das Fest und die Krönung war für sie jedes Mal, wenn die Königin an die Spitze der Fichte den aus Rauchquarz geschliffenen Faustgroßen Wolfskopf hängte. König Karlus hatte in den vergangen Jahren eingeführt, dass nicht mehr nur das eigene Volk am Fest teilnehmen sollte, sondern auch hochrangige Vertreter der benachbarten Länder. Und auch für sie war das Fest der Benedictusfichte ein besonderes Ereignis.
Die Küche hatte in den letzten Tagen keine ruhige Minute gehabt und Unmengen an Pasteten, Terrinen, Braten, Suppen, Salaten und süßen Köstlichkeiten gezaubert. Die Vorfreude hatte alle Bewohner des Schlosses erfasst und ein jeder war in Hochstimmung.
Alessandra stand an der Brüstung der großen Treppe, die nach unten in die Empfangshalle führte, von der aus die riesigen mit zahllosen Schnitzereien verzierten Flügeltüren den Weg in den Festsaal öffneten. Ruhig ohne jegliche Gefühlsregung beobachtete sie, wie Gast um Gast vom Zeremonienmeister förmlich begrüßt wurde. Lakaien nahmen dicke Fellmäntel entgegen und brachten sie in einen separaten Raum, der heute nur zur Aufbewahren dieser wärmenden Bekleidung vorgesehen war. Wie am Ende des Festes jeder Gast den richtigen Mantel bekam, war allein das Geheimnis der Lakaien.
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