»Vielleicht wußte er, daß du nicht gern süßes Zeug ißt, und wollte sie zurückholen.«
Aber Lois achtete nicht auf Lizzy.
»Ich weiß nicht – ich verstehe es nicht –«
In diesem Augenblick rief eine Stimme von unten herauf. Lizzy öffnete die Tür.
»Ist etwas passiert?« Es war der alte Mackenzie.
»Der Mann schlaft auch nie, er hätte eigentlich Nachtwächter werden sollen«, flüsterte Lizzy leise. »Nein, es ist alles in Ordnung, Mr. Mackenzie«, rief sie dann laut.
»Ich hörte, daß vor einigen Minuten jemand die Treppe hinunterging und das Haus verließ«, sagte der alte Mann. »Ich dachte, eine von Ihnen wäre krank.«
»Nein, Mr. Mackenzie, das war ich – ich sah nach, ob Miss Reddle die Haustür geschlossen hatte. Gute Nacht.«
Sie kam zurück und schaute nachdenklich auf die Uhr.
»›Um drei Uhr morgens‹ ist ein hübscher neuer Schlager – aber es ist nicht gerade die richtige Zeit für junge Leute, um in den Zimmern junger Damen herumzuschnüffeln. Was wirst du nun machen, Lois? Immerhin hast du nun das Porto für die Bonbonniere gespart. Ich glaube, eine Tasse Tee wäre ganz angebracht.«
Soweit Lizzy in Betracht kam, war jeder Augenblick und jede Gelegenheit recht, um Tee zu trinken. Sie eilte in die Küche und kam zehn Minuten später mit einer Kanne zurück, deren heißer Inhalt ihr und Lois sehr guttat. Ausnahmsweise hatte Lizzy auch genügend Teeblätter genommen.
»Es gibt zwei Wege«, begann Lois. »Erstens könnte ich die Polizei benachrichtigen, zweitens könnte ich persönlich Mr. Dorn aufsuchen und Aufklärung von ihm verlangen. Ich glaube, das zweite tue ich auch. Bitte, gib mir noch einmal seine Adresse.«
»Aber du wirst doch nicht jetzt gleich gehen!« sagte Lizzy erschrocken.
»Nein, ich gehe vor den Bürostunden zu ihm.«
»Da liegt er sicher noch im Bett – es ist ja möglich, daß du ihm die Schokolade wieder wegnehmen kannst, während er schläft«, meinte Lizzy scherzend.
Die Hiles Mansions waren ein stattlicher Häuserblock mit vielen Wohnungen in der Nähe der Albert Hall, aber Mr. Dorns Wohnung war die unscheinbarste von allen. Sie lag im obersten Stockwerk und bestand nur aus zwei Räumen, einem Bad und einer kleinen Eingangshalle. Der Fahrstuhlführer war in Hemdsärmeln und putzte die Messingbeschläge, als Lois zu so früher Morgenstunde ankam. Er war nicht überrascht über ihr Verlangen.
»Er wohnt im obersten Stock, mein Fräulein. Wenn Sie in den Lift treten wollen – entschuldigen Sie bitte meine Hemdsärmel ich werde Sie nach oben fahren.«
Der Fahrstuhl hielt im sechsten Stock, und der Mann zeigte auf eine der drei einfachen Rosenholztüren, die auf demselben Flur lagen. Sie zögerte einen Augenblick, den Knopf zu drücken, aber dann nahm sie allen Mut zusammen und klingelte. Sie nahm an, daß sie lange warten müßte, denn wenn Mr. Dorn tatsächlich in der Nacht in ihrer Wohnung gewesen war, würde er jetzt sicher noch schlafen. Aber kaum hatte sie die Hand von dem Knopf zurückgezogen, da öffnete sich zu ihrem großen Erstaunen die Tür, und Michael Dorn stand vor ihr. Er schien schon einige Zeit auf zu sein, denn er war vollständig angekleidet und rasiert. Auch konnte man ihm nicht ansehen, daß er eine schlaflose Nacht hinter sich hatte. »Das ist ein unerwartetes Vergnügen, Miss Reddle«, sagte er. »Kommen Sie bitte herein.«
Das Arbeitszimmer, in das er sie führte, war viel größer, als sie erwartet hatte; die durch die Dachneigung verursachte schiefe Decke gab ihm einen eigentümlichen, aber interessanten Charakter. Auf den ersten Blick sah sie, daß die Einrichtung aus alten, wertvollen Möbeln bestand. Der Schreibtisch, auf dem eine offene Zeitung lag, war zweifellos Boule-Arbeit. Das einzige moderne Stück in dem Raum war der tiefe Sessel vor dem Kamin. Radierungen hingen an den geschmackvoll getönten Wänden. In einer Nische stand ein Bücherschrank.
»Ich komme aus einem sehr ernsten Anlass, Mr. Dorn.«
»Es tut mir leid, das zu hören«, antwortete er und schob den bequemen Sessel für sie zurecht.
»Ich möchte mich nicht setzen, danke schön. Gestern Abend sandten Sie mir eine Bonbonniere mit Schokolade. Ich kann wohl verstehen, daß Sie das in guter Absicht taten, aber ich denke, ich hätte Ihnen klar genug gesagt, daß ich Ihre Bekanntschaft nicht wünsche. Ich danke Ihnen vielmals für alles, was Sie für mich getan haben«, fuhr sie zusammenhanglos fort, »aber –« Sie machte eine Pause.
»Aber?« wiederholte er.
»Sie haben sich mir gegenüber ganz abscheulich betragen!« Sie wurde rot. »Mir Schokolade zu schicken, war schon eine Unverschämtheit, aber in meine Wohnung einzudringen, war ein Verbrechen! Ich bin hierhergekommen, um Ihnen zu sagen, daß ich mich an die Polizei wenden werde, wenn Sie mich jetzt nicht in Ruhe lassen!«
Er lehnte am Tisch und spielte mit einem langen, spitzen Dolch, der offensichtlich als Brieföffner diente.
»Sie sagten eben, daß ich in Ihre Wohnung eingedrungen sei – wie kommen Sie darauf?«
»Ich habe Sie erkannt! Sie kamen, um die Bonbonniere wiederzuholen. Aber die Mühe hätten Sie sich sparen können – ich hätte sie Ihnen heute morgen sowieso zurückgeschickt.«
Zu ihrem Erstaunen leugnete er nicht, daß er in ihrem Zimmer gewesen war, er gab es sogar offen zu.
»Hätte ich das gewußt, dann wäre ich wahrhaftig nicht in der Nacht gekommen«, sagte er mit einer Ruhe, die sie vollständig fassungslos machte. »Mein Verhalten mag in Ihren Augen unentschuldbar sein, aber die Erklärung dafür ist sehr einfach. Bis Viertel nach eins wußte ich nämlich gar nicht, daß Sie die Schokolade erhalten hatten.«
Er ging quer durch das Zimmer, zog eine Schublade auf und nahm die Bonbonniere heraus.
»Das ist sie doch?«
Sie war über seine Kühnheit so verblüfft, daß sie nicht sprechen konnte. Er legte die Bonbonniere in den Schrank zurück.
»Ich habe Ihre Intelligenz unterschätzt, Miss Reddle. Leider habe ich allzu häufig in meinem Leben die Begabung der Frauen zu leicht genommen.«
»Ich kann Sie nicht verstehen«, sagte sie hilflos. »Ich wollte Ihnen doch nur sagen –«
»Sie wollten mir sagen, daß Sie die Polizei benachrichtigen würden, wenn sich so etwas wiederholt«, vollendete er. »Das wäre auch vollständig in Ordnung. Wann werden Sie Ihre neue Stellung antreten?«
»Am Montag.« Sie war über sich selbst verwundert, daß sie ihm das sagte. Aber dann erinnerte sie sich daran, daß der Zweck ihres Herkommens nicht darin bestand, ihm über ihr Tun und Lassen Auskunft zu geben, und sie ging zur Tür. »Sie leugnen also nicht, daß Sie in meiner Wohnung waren?«
»Nein – warum sollte ich das tun? Sie sahen mich doch. Durch den Lichtschein meiner Lampe weckte ich sie auf. Das tut mir sehr leid; wenn ich nicht diesen dummen Fehler gemacht hätte, würden Sie es gar nicht gemerkt haben.«
Sie starrte ihn entsetzt an.
»Sie geben zu, daß Sie bei mir waren?« fragte sie ihn, und ihr Erstaunen wuchs, als sie sich plötzlich darüber klar wurde, wie groß eigentlich sein Vergehen war. »Wie konnten Sie das tun, Mr. Dorn?«
»Es ist viel leichter für mich, einen Fehler zuzugeben, als ihn durch Lügen zu beschönigen«, sagte er kühl. »Selbst Sie werden mir wegen meiner Offenheit Glauben schenken müssen.«
Er begleitete sie zur Treppe und klingelte nach dem Fahrstuhl.
»Sie müssen Ihre Tür zuschließen, Miss Reddle«, sagte er, »ganz gleich, wo Sie sind. Selbst in dem Palais der Gräfin von Moron – Sie müssen Ihre Tür immer verschlossen halten.«
Er schaute den Fahrstuhlschacht hinunter und sah, daß der Lift nicht nach oben kam. Der Mann, der ihn bediente, hatte das Gebäude verlassen und sein Klingelzeichen nicht gehört.
»Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich Ihrer Mutter nicht schreiben. Sie würden falsche Hoffnungen erwecken – sie ist jetzt ruhig und ausgeglichen. Der Gedanke, daß Sie leben und alles wissen, könnte den schwachen Lebensfaden zerreißen, der sie all die Jahre aufrechterhalten hat.«
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