Etienne war ein Bär von einem Mann. Eins neunzig groß und gestählte Muskeln von unaufhörlichen Besuchen in Fitnessstudios und Boxkellern. So machte er sich auch nie Gedanken um einen Bodyguard, wenn er nahezu allabendlich seine Runden durch den Bois de Boulogne zog. Er war der festen Meinung, dass er sich besser selber verteidigen konnte, als sich auf irgendwelche anderen verlassen zu müssen.
Francine war optisch das totale Gegenteil von Etienne. Nur gute eins sechzig groß, blasser Teint und hellblonde, fast weiße Haare mit einer knallroten Strähne an der linken Schläfe.
Etienne machte weiter seine Runden. Es war ruhig heute Abend, keine Schwierigkeiten mit den Konsumenten. Obwohl sich heute eine Menge im Park tummelten, Wochenende eben. Doch die milde Luft schien alle zu besänftigen. Es war so still, dass man meinen konnte, alleine hier zu sein. Das dem nicht so war, dafür reichte ein Blick auf die unzähligen Parkbänke am Rand der Wege, von denen kaum eine nicht von Liebespaaren, Spaziergängern, oder eben Süchtigen besetzt war.
Etienne ging weiter in Richtung des Osttores. Der Himmel über ihm hatte eine leichte rötlich-blau schimmernde Farbe von den letzten Strahlen der Dämmerung.
Wenn es schon so ruhig war, würde er sich noch eine Weile auf die Bank vor dem Osttor setzen und auf seine Leute warten, ein wenig die Ruhe genießen, von der man hier in dieser großen Stadt nicht so viel hatte.
Auf dem letzten Rest seines Weges überkam ihn ein ungewohntes Gefühl von Verfolgt werden. Er blickte sich um, konnte aber zwischen den Bäumen und auf den Wegen nichts und niemanden in der immer stärker werdenden Dunkelheit ausmachen. Muss ich mich wohl getäuscht haben, dachte er und ging weiter. Doch das Gefühl wich nicht.
Soll er nur kommen, oder sie. Wird schon sehen, was er/sie davon hat. Etienne bereitete sich innerlich auf einen Überfall, oder Angriff vor. Es passierte aber nichts. Es blieb so ruhig, wie vorher. Nichts war zu hören, abgesehen von gelegentlichem Rascheln im Laub, hervorgerufen von Vögeln, oder anderem Kleingetier auf der Suche nach Nahrung.
Etienne schritt durch das Osttor, bog sogleich rechts um die Ecke und setzte sich auf die Bank zwischen den alten Eichen. Er langte in die Innentasche seines Sakkos, holte die Schachtel Gauloises heraus, nahm sich die Vorletzte und zündete sie sich mit seinem Zippo an. Er genoss den ersten Zug, atmete ihn tief ein, merkte wie der Rauch in seine Lunge drang.
Ein Blick auf seine goldene Rolex zeigte ihm, dass es kurz nach dreiundzwanzig Uhr war. Also hatte er noch fast eine Stunde seine Ruhe. Er lehnte sich zurück, legte den Kopf in den Nacken, rauchte genüsslich seine Zigarette und ließ die Zeit langsam verstreichen während er verträumt in den schwärzer werdenden Himmel blickte.
Doch dann erschrak er plötzlich, als sich von hinten eine Hand fest um seine Augen und eine um seinen Hals legten. Etienne sprang sofort auf, befreite sich mit einer schwungvollen Bewegung aus der ungewollten Umklammerung, drehte sich dabei um und blickte in zwei ihm sehr vertraute Augen.
„Francine, was machst du denn hier? Hast du eine Ahnung, was für einen Schrecken du mir bereitet hast und was das für Konsequenzen hätte haben können?“ Etienne war freudig überrascht, sein Herz pochte noch ordentlich. Also hatte er sich wohl doch nicht getäuscht, als er das Gefühl hatte verfolgt zu werden.
„Ich dachte ich besuche dich. Schlimm?“ Sie setzte ihr süßestes Lächeln auf, was sie aufbringen konnte. Ihre hellblauen Augen strahlten ihn an, eine Locke ihres hellblonden Haares fiel ihr keck über das Gesicht. „Freust du dich denn nicht mich zusehen?“, setzte sie noch hinzu.
„Doch, doch, natürlich. Aber es kommt schon sehr überraschend und ungewöhnlich ist es obendrein.“ Sie besuchten sich so gut wie nie in ihren jeweiligen Bezirken. Es war so eine Art ungeschriebenes Gesetz, eine unausgesprochene Abmachung. Auch wenn die beiden ein Paar waren. Aber hin und wieder kam es dazu, doch sonst nach Absprache.
Sie setzten sich zusammen auf die Bank umarmten und küssten sich und sprachen über die Pläne, die sie für den morgigen Sonntag gemacht hatten.
Sie wollten mal etwas völlig Normales machen. In den Parc d´Asterix fahren und danach einen Spaziergang an der Seine machen bevor sie zu Etienne nach Hause fahren würden, um einen entspannten Abend zu verbringen. Einmal einen Sonntag gestalten, wie es die ganz normalen Leute von nebenan auch machten.
„Na gut, mein Teddy. Dann lasse ich dich jetzt mal wieder alleine.“ Francine nahm ihn in den Arm und gab ihm noch einen Kuss auf die Stirn. „Dann hast du noch eine Weile deine Ruhe bevor deine Leute kommen. Wir sehen uns dann morgen Abend.“
„Pass auf dich auf!“
„Mach ich doch immer.“ Sie löste sich aus seiner Umarmung und zog ihre Fahrradhandschuhe an.
„Ich weiß, wie du Fahrrad fährst.“ Etienne grinste.
Francine war gerne mit dem Fahrrad unterwegs. Mit dem Auto durch die Stadt zu kommen war alles andere, als ein Vergnügen, so voll wie die Straßen immer waren. Mit der Metro fahren kam für sie auch nicht infrage, zu voll, zu dreckig, zu laut.
Francine stand auf und schwang sich auf ihr Rad, welches sie zwischen den dicken Eichenstämmen versteckt hatte. Sie drehte sich noch einmal um und winkte Etienne zum Abschied. Er winkte zurück, seine letzte Gauloises im Mundwinkel, das Zippo schon in der Hand und wartete darauf, dass es Mitternacht wurde.
Francine genoss das Fahren auf der Straße, die sich zwar stellenweise in einem katastrophalen Zustand befanden, aber immer noch besser waren, als die Radwege. Und zu dieser Stunde waren auch bei Weitem nicht mehr so viele Autos unterwegs, wie tagsüber, wo man sich vor den Blechlawinen kaum in Sicherheit bringen konnte.
Besonders gefiel ihr das nächtliche Radeln, weil sie zu dieser Zeit so richtig schnell fahren, die einundzwanzig Gänge ihres pinken Geländerades voll ausnutzen konnte. Pink war ihre Farbe, da war sie durch und durch Mädchen.
Ihr Weg führte sie über den Arc de Triomphe, dann über die Champs-Elysées, den großen und breiten Boulevard in dem die teuersten Geschäfte der Stadt ansässig waren. Am Obélisque inmitten des Place da la Concorde bog sie quer über den Kreisverkehr fahrend links ab in direkter Richtung zum Hügel Montmartre. Sie hatte noch Zeit, kam gut voran, so dass sie sich entschloss noch bis zur Sacré-Coeur hoch zu fahren.
Im hellen Sonnenlicht strahlte die Basilika stets in grellem weiß von ihrem hoch gelegenen Standort auf die Stadt herab und war fast von überall aus zu sehen. Sie war der helle Punkt auf dem Gipfel des Montmartre.
Hierher verschlug es Francine häufiger zu den Nachtstunden. Sie stand gerne vor der Kirche von wo aus man einen atemberaubenden Blick über ihr Gebiet, aber auch über das gesamte Paris hatte. Sie mochte es hier oben zu stehen, oder zu sitzen, so völlig allein, ganz ohne Touristen.
Heute war sie etwas müde und kaputt von der rasanten Fahrt vom Bois de Boulogne hierher, aber sie wollte noch dort hinauf. Ihre Haare standen ihr wild vom Kopf, sie war stark ins Schwitzen geraten.
Aus Mangel an verbliebener Kraft schob sie ihr Rad den letzten Rest des Weges. Das war zwar auch nicht wirklich leicht, aber immer noch besser, als sich fahrender Weise hier herauf zu quälen.
Sie kam von der Rückseite der Basilika hinauf. Man kann auch über die Vorderseite den Hügel erklimmen, aber dort ging es fast ausschließlich über Treppen. Die Alternative wäre ein weit gebogener Weg gewesen. Francine hatte keine Lust ihr Rad hoch zu schleppen. Also nahm sie den kleinen Umweg in Kauf, denn von der Rückseite her führten kleine Straßen nach oben, auf denen sie mehr, oder weniger bequem ihr Rad schieben konnte.
Oben angekommen umrundete sie die Basilika um die rechte Seite herum. Das ging auch gar nicht anders, da die andere Seite gesperrt war. Doch kaum, dass sie in die Nähe des Mauerwerkes kam beschlich sie ein Gefühl von Angst. Ihr Herz begann schneller zu klopfen und sie bekam eine leichte Gänsehaut, machte sich aber vorerst keine weiteren Gedanken darüber.
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