Dort angekommen ging er zu dem ersten Tor, dass er entdecken konnte, wurde aber von den beiden Wachen am Eintritt gehindert. Marcus zog die gerollte Nachricht unter seiner Kutte hervor und zeigte ihnen das Siegel seines Abtes woraufhin er eingelassen und von einem der beiden Wachen zum Camerlengo geleitet wurde, der vor der Tür zum Schlafgemach des Papstes saß.
„Ihr habt Neuigkeiten aus dem Norden, wie ich höre“, wurde er von diesem begrüßt nachdem die Wache berichtet hatte, wer Marcus war und was er dabei hatte. „Aber zu unserem Vater kann ich euch heute nicht mehr durchlassen, er schläft bereits. Tut mir leid“, sagte der Camerlengo mit einem leicht respektlosen Unterton in der Stimme.
„Wer ist das?“, hörte man eine gebrechliche Stimme aus dem Inneren des Schlafgemaches des Papstes rufen. Es konnte sich dabei nur um den heiligen Vater selbst handeln.
„Ein Bote aus dem Norden!“, antwortete der Camerlengo widerwillig, weil er ahnte was folgen würde. Und so kam es auch.
„Lasst ihn herein, sofort!“, forderte die Stimme. Aus dem Norden! Mehr brauchte Honorius nicht zu hören, um zu wissen, woher genau der Bote kam und was der Wahrscheinlichste Grund dafür war.
Widerstrebend führte der Camerlengo Marcus hinein. Honorius lag in seinem Bett. Er war blass wie eine Kalkwand und dünn wie ein Skelett. Die Haut war so faltig, wie ein Stück Papier, das zerknüllt worden war. Es war kurz vor Mitternacht.
„Was habt ihr?“, fragte der Papst mit seiner kraftlosen Stimme.
Marcus zog das gerollte Papier über den Kopf und hielt ihm wortlos die Nachricht von Rigidius hin. Der Papst nahm sie an sich und entfaltete sie, was ihm sichtlich Schwierigkeiten bereitete. Der Camerlengo wollte ihm zu Hilfe kommen, doch der Papst bedeutete ihm mit einer kurzen Geste, das er keine Hilfe bräuchte.
Mit wachsendem Interesse las Honorius die Nachricht, seine Augen weiteten sich dabei immer mehr. Als er fertig war faltete er die Nachricht zusammen und legte sie beiseite .
„Gebt mir bitte etwas zu schreiben“, bat er Marcus. Marcus reichte ihm die notwendigen Utensilien vom Schreibtisch. Der Papst schrieb mit zitternden Fingern. Ob das an einer gewissen Aufregung, oder an seinem Gesundheitszustand lag konnte man nicht sagen. Dann faltete er seine soeben geschriebene Nachricht zusammen, versah sie noch mit seinem eigenen Siegel, dem Fischerring und gab sie Marcus. „Bringe dies deinem Abt!“, forderte er Marcus auf. „Geht rasch, es eilt.“
Marcus verbeugte sich und verließ den Papst, den Petersdom, Rom und machte sich auf den Rückweg zu seinem Kloster, um Rigidius die Nachricht zu überbringen.
Honorius hatte einen zufriedenen Gesichtsausdruck, als er sich wieder in seine Kissen legte. Ein leichtes Lächeln huschte über sein Antlitz. Der Camerlengo stand neben dem Bett des Papstes und wirkte ratlos. Er hatte keine Ahnung was in der Nachricht stand, weil Honorius ihm auftrug diese in den Kamin zu werfen. Aber er konnte sich seinen Teil denken. Doch er würde niemals erfahren, ob seine Annahme stimmte.
Denn der heilige Vater schlief mit diesem lächelnden Ausdruck im Gesicht ein, für immer.
Papst Honorius verstarb an diesem frühen Montagmorgen, nur wenige Sekunden nach Mitternacht, kurz nachdem Marcus ihn verlassen hatte.
Paris
Samstag, 11. September
Etienne Chavalier, siebenunddreißig Jahre alt, spazierte gemütlich durch den weltgrößten Park im Nordwesten der französischen Metropole, dem Bois de Boulogne, wie beinahe an jedem Abend der letzten sechs Jahre. Es gab nur wenige Tage, an denen er es sich sparte.
Er machte seinen üblichen Kontrollgang, beobachtete seine Angestellten, ob sie denn ordentlich arbeiteten und den Bedürftigen genügend verkauften.
Seine Angestellten, das waren seine Unterhändler, die den Stoff verkauften, den Etienne auf diversen verschlungenen Wegen beschaffte. Er selber blieb stets im Hintergrund. Etienne trug das größte Risiko und bekam von jedem siebzig Prozent der Einnahmen.
Die Bedürftigen, das waren die Abhängigen, die stets gerne in diesem Park abhingen. Und wenn mal einer von denen nicht zahlen konnte, oder wollte, dann hetzte Etienne seine Bluthunde, wie er seine Schlägertruppe nannte, auf den Unwilligen. In der Sache war er absolut kompromiss- und gefühllos. Wer nicht zahlte, musste einen Denkzettel bekommen, der auch in Einzelfällen schon mal den Tod bedeuten konnte.
Genauso wenig machte er sich Gedanken darum, wie schädlich seine Ware für die Konsumenten war. Ihn interessierte nur sein Profit. Er war ein knallharter Profi in seinem Geschäft. Er war einer der Drogenkönige von Paris und genoss sein Leben, seinen Reichtum, der sich über die Jahre angehäuft hatte. Er lebte in Saus und Braus.
Etienne hatte seine Villa im königlichen Vorort von Paris, in Versailles, unweit der großen Schlossanlage gelegen. Etienne hielt es für angemessen dort zu wohnen. Es würde zu ihm und seinem Standard passen, wie er stets betonte. Seine Familie stammte aus Monaco wodurch er noch nie mit ärmlichen Verhältnissen zu tun hatte.
Sein Studium der Kriminalistik, im Nebenfach Theologie, hatte ihn dann nach Paris verschlagen. Es war eine seltsame Mischung der beiden Studiengänge, die er belegte. In den ersten Jahren auf der Uni rutschte er immer mehr ab, kam mit Kokain in Verbindung bis er schließlich die Seiten wechselte.
Es war ein angenehmer Spätsommerabend an diesem Samstag. Der Juli war so heiß gewesen, wie seit Jahren nicht mehr. Temperaturen bis an die vierzig Grad waren keine Seltenheit gewesen und das über einen Zeitraum von anderthalb Monaten.
Doch jetzt, Anfang September, hatte es sich etwas normalisiert. Es war kurz nach zweiundzwanzig Uhr und das Thermometer zeigte gerade mal nur noch gute zwanzig Grad.
Etienne ging weiter seinen gewohnten Weg durch den Bois de Boulogne, vorbei an den beiden großen Seen, sein Sakko lässig über die Schulter geschwungen, seine schwarze Sonnenbrille steckte auf dem Kopf, war zwischen seinen dichten schwarzen Haaren kaum auszumachen. Lediglich wenn sich die Lichter der Laternen am Wegesrand in den Gläsern spiegelten, fiel sie auf.
Um Mitternacht musste er spätestens am Treffpunkt sein, um seine heutigen Einnahmen seiner Leute einzusammeln. Der Treffpunkt befand sich am Osteingang zum Bois de Boulogne, gleich neben dem großen, schmiedeeisernen Tor. Dort war es stets schattig und unauffällig. Selbst an den sonnigsten Tagen, da hier einige hohe Bäume standen, die die Bank neben dem Tor säumten, auf der er stets saß.
Den heutigen Tag hatte er damit verbracht, sich mal wieder selber als Reiseführer durch die Stadt zu führen. Das machte Etienne häufiger. Einfach durch Paris schlendern, sich die Sehenswürdigkeiten anschauen. Zu gucken, ob sich etwas verändert hatte, wo Straßen gebaut, oder erneuert wurden. Man musste sich auf dem Laufenden halten. Und vor allen Dingen seine Konkurrenz im Auge behalten.
Jeder hatte sein eigenes Territorium, die Grenzen waren genau festgelegt und wurden von allen respektiert und akzeptiert.
Da gab es zum Beispiel Stéphane, der komplett im Umkreis des Eiffelturms tätig war. Oder Louis. Ihm gehörte der Bereich vom Louvre bis zum Place de la Concorde. Etienne selber agierte vom Triumphbogen bis zum Bois de Boulogne, hatte damit einen der bedeutendsten Bereiche.
Die einzige Frau zwischen all den Drogenbossen war Francine. Ihr Gebiet war das komplette Arrondissement Montmartre und ihr Wohnort ein schmales Eckhaus direkt neben dem Moulin Rouge. Francine verdiente ihr Geld neben dem Drogenhandel mit einigen ihr unterstellten Prostituierten, was wahrscheinlich, oder mit ziemlicher Sicherheit mit dem Stadtteil zusammenhing. Montmartre war das Rotlichtviertel der französischen Hauptstadt.
Francine war die derzeitige Freundin von Etienne. Dadurch waren sie gemeinsam die Mächtigsten in der Unterwelt von Paris.
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