Ein doppeltes Kopfnicken signalisierte Einverständnis. „Sehr schön, dann hört gut zu. Dieser Berg – und damit meine ich denjenigen in der Höhle – erfüllt eine unglaublich wichtige Aufgabe. Er besteht aus reinem Kristall und vor Urzeiten wurden unzählige kleine Einbuchtungen herausgearbeitet. Und in jeder dieser kleinen Kerben steckt wiederum ein Kristall. Sie sind etwa so groß, wie ein gewöhnliches Taubenei und jeder dieser Kristalle birgt eine Kraft in sich.“
Nun wandte er sich an seinen Großneffen, “Sei doch bitte so gut und bring mir den Beutel, der dort in der Ecke auf dem Sims liegt.“
Nondol kam dieser Aufforderung sofort nach. Bedächtig nahm er den bestickten Beutel und legte ihn vor Mingar auf den Tisch. Dann nahm er seinen Platz wieder ein. Mingar löste die Verschnürung, fasste in das Lederbehältnis und entnahm ihm den Edelstein, der aussah, als ob er aus poliertem, grünem Glas bestehen würde. Er hielt ihn den beiden Jungen entgegen und zwar mit Daumen und Zeigefinger, so dass sie einen ungehinderten Blick darauf hatten. Dabei sagte er: „Seht euch diesen eiförmigen Kristall einmal genau an.“
Er beobachtete, wie die beiden jungen Männer sich nach vorne beugten und das Ei aufmerksam betrachteten. „Seht ihr das zarte Leuchten in seinem Inneren?“ , fragte der alte Mann nun. Beide bekamen große Augen, als sie das vorsichtige, rote Glühen im Inneren des grünen Kristalls bemerkten. Dann nickten sie mit offenen Mündern, sagten aber kein Wort. Offenbar nahmen sie ihr Versprechen ernst.
Zufrieden steckte Mingar den Edelstein wieder in den Beutel und legte ihn auf dem Tisch ab. Seinen nun folgenden Worte versuchte er möglichst viel Bedeutung zu geben: „Dieser Kristall hat dir, lieber Nondol, heute Nacht das Leben gerettet.“
Sofort hob er beschwichtigend beide Hände, als er bemerkte, dass beide Jungen ihre Überraschung kundtun wollten. „Nein, nein! Ich weiß, ich mute euch viel zu. Aber lasst mich bitte erst weiter erzählen.“
Nach einer kurzen Atempause fuhr er fort: „In den kleinen Öffnungen auf dem Gipfel des Berges in dieser Höhle stecken unzählige dieser wundersamen Steine. Und jeder einzelne von ihnen birgt unglaublich große, positive Energie.“
„Onkel Mingar“, meldete sich nun Nondol verlegen, „entschuldige, aber was ist positive Energie?“
„Oh ja“, antwortete Mingar, als er erkannte, dass er mit diesen Begriffen die falsche Ausdrucksweise gewählt hatte, „seht ihr, das ist es, was ich vorhin meinte, als ich sagte, ich müsste die richtigen Worte finden, damit ihr die Geschichte verstehen könnt. Wie soll ich das jetzt ausdrücken?“
Mit nachdenklichem Gesicht richtete er seinen Blick in Richtung Zimmerdecke. Dann, als ob er von da oben eine Eingebung erhalten hätte, erhellte sich sein Blick. „Also Energie, das ist eine starke Kraft“, versuchte er zu erklären. „Und positiv bedeutet so viel, wie gut. Mit positiver Energie meine ich also eine Kraft, die Gutes bewirkt.“
Er ließ seine Worte einige Sekunden wirken und fragte dann: „Genügt diese Erklärung? Könnt ihr euch darunter etwas vorstellen?“
„Ja, ich glaube, das haben wir verstanden“ , ließ Nondol sich hören und richtete dabei einen fragenden Blick zu Walgin, der ihm mit einem stummen Nicken beipflichtete.
„Gut, also jeder dieser Kristalle bewahrt, wie ich bereits sagte, in seinem Inneren diese positive Kraft. Wodurch diese Kraft, also diese Energie, zustande kommt, kann ich euch leider nicht sagen. Jedenfalls werden auf dem Berg in dieser Höhle jene Kristalle verwahrt und das hat für das ganze Reich, in dem sich diese Höhle befindet eine unendlich große Bedeutung. Dazu könnte ich jetzt wiederum viel erzählen, aber das würde viel zu viel Zeit in Anspruch nehmen“.
Mingar unterbrach an dieser Stelle seine Erzählung kurz und nahm einen Schluck aus dem Krug. Nachdem er sich den Mund abgewischt hatte, nahm der den Faden wieder auf: „Und jetzt, meine jungen Freunde, komme ich langsam zum Kern der Sache. Dort, wo diese Kristalle aufbewahrt werden, gibt es eine sehr kluge, sehr weise und gütige Frau. Ihr Name ist Nenuana und sie ist die Hüterin dieser Höhle.“ Er unterbrach sich erneut und überlegte kurz: „Nein, sie ist eigentlich die Hüterin der Steine“, verbesserte er sich, indem er das Wort „Steine“ besonders betonte „und ich hatte die Ehre, diese Frau kennen zu lernen. Und nicht nur das; wir wurden sogar gute Freunde.“
Nondol bemerkte, dass sich in diesem Moment ein wehmütiger Ausdruck auf Mingars Gesicht bemerkbar machte und für einen kurzen Augenblick war es ihm, als ob sein Großonkel damit zu kämpfen hatte, Tränen zu unterdrücken. Dann musste er aber seine Aufmerksamkeit auch schon wieder auf Mingars Worte richten.
„Nenuana machte mir damals ein großes Geschenk“, fuhr Mingar mit seiner Geschichte fort. „Sie ist nämlich nicht nur klug, sondern auch sehr großzügig. Nun ja, sie überreichte mir jedenfalls das wundervolle Messer, das ihr dort drüben seht – und eben diesen Kristall.“ Bei diesen Worten legte er seine linke Hand andächtig auf den Lederbeutel. „Sie beschwor mich, keinen Gebrauch davon zu machen, bevor ich nicht in eine aussichtslose Situation kommen würde und unbedingt auf die Energie des Kristalls angewiesen wäre.“
Erneut unterbrach er seine Erzählung und nahm einen Schluck aus dem Krug. Dann sah er Nondol an und sprach mit leisen, bedeutungsschweren Worten weiter: „Und dieser Moment, Nondol, war heute Nacht. Oder besser gesagt, in den frühen Morgenstunden.
Abermals benötigte er eine kurze Pause.
„Du kannst dich zum Glück nicht daran erinnern, mein Junge. Aber du lagst im Sterben. Ja, du hättest den heutigen Morgen nicht mehr erlebt, wenn dieser Kristall dir nicht geholfen hätte“. Damit wies er erneut auf den Beutel und erhob sich dann, um einige Schritte im Zimmer auf und ab zu gehen. Wie gebannt saßen sowohl Nondol, als auch Walgin auf ihren Stühlen und wagten kaum zu atmen. Der Alte hatte sie mit seinen letzten Worten in den Bann gezogen.
Bis jetzt, so ging es Nondol durch den Kopf, war ich vor allem Walgin und Mingar dankbar. Ich dachte, sie wären es, die mir geholfen, mich gerettet hätten. Und jetzt soll plötzlich ein grünes, steinernes Ei dafür verantwortlich sein, dass ich noch lebe? Wie soll denn das überhaupt möglich sein?
Bevor er seine Gedanken weiterführen konnte, drangen Mingars Worte in sein Bewusstsein: „Ich war mit meiner Weisheit am Ende, Nondol. Der Kräutertrank hatte nicht gewirkt. Die Kompressen und Wadenwickel waren vergeblich. Die Salbe, die ich dir in die Wunde gerieben hatte, blieb ebenso ohne Erfolg, wie die Gebete deiner Eltern. Dein Körper war vergiftet, du hattest so hohes Fieber, dass du eigentlich Schäden davongetragen haben müsstest.“
Dann wandte er sich um und ging mit raschen Schritten auf Nondol zu: „Und jetzt sieh dich an. Du sitzt hier und bist gesund!“ Mit den letzten Worten war der alte Mann etwas lauter geworden und für Nondol klangen sie beinahe wie ein Vorwurf. Aber sicher waren sie von Mingar nicht so gemeint.
„Bitte Mingar!“ warf er deshalb ein und sah seinem Großonkel ins Gesicht, als er flehte: „Erkläre es mir! Warum bin ich so plötzlich gesund geworden?“
„Ganz einfach“, kam es über dessen Lippen, „weil ich die positive Energie des Kristalls gebrauchte, um deine Wunde zu heilen. Weil ich diesen Stein, der dort im Beutel liegt, auf deine Wunde legte und du deshalb innerhalb weniger Minuten wieder gesund wurdest! Die heilende Kraft floss heraus, verbreitete sich über deinen ganzen Rücken und ich konnte zusehen, wie die Verwundung so rasch heilte, dass ich es nicht glauben würde, hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen!“
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