Nun gut, er hatte ihnen zwar in der Vergangenheit viele Geschichten erzählt, sodass sie nicht vollkommen ahnungslos an das eine oder andere Thema herangeführt wurden. Damals hatte er aber stets versucht, die Begebenheiten in vorsichtige Worte zu packen, sodass er seine Zuhörer nicht überforderte. Diese Rücksicht zu nehmen, war ihm nun nicht mehr möglich. Aber er tat sein Bestes und verdeutlichte ihnen nicht selten anhand praktischer Beispiele und Experimente die Themen, mit denen sie sich gerade befassten.
Ihm war vollkommen bewusst, welche Herausforderung sein Unterricht für die Beiden darstellte. Immer wieder musste er sich in Erinnerung rufen, dass es sich bei seinen Schülern nun einmal um 15jährige Belmaner handelte, die in ihrem kurzen Leben nichts anderes kennen gelernt hatten, als den Wald, die Natur und die Tiere in der nächsten Umgebung. Wie sollten sie etwas ahnen von all den verschiedenen Lebewesen und Lebensformen, die weit entfernt von hier existierten und denen sie auf ihrer Reise sicherlich begegnen würden? Woher sollten sie etwas wissen, von all den vielen andersartigen Kulturen und Gesellschaftsformen?
Niemals in ihrem Leben wären sie auf die Idee gekommen, Sterne könnten etwas anderes sein, als das, was sie waren. Kleine, ewig leuchtende Körner am Himmel, durch Walon verstreut, um den Belmanern seine Macht und Herrlichkeit zu demonstrieren.
Es war den beiden Jungen gar nicht möglich, auch nur das Geringste zu erahnen vom endlosen Weltall, den unzähligen Sonnen, den völlig verschiedenen Welten und den Möglichkeiten, dort hin zu kommen. Denn diese gab es durchaus – und es würde den Beiden nicht erspart bleiben, diese Möglichkeiten zu nutzen. Aber ihnen dies beizubringen war eine Herausforderung, die er sich für die letzten beiden Unterrichtstage aufgehoben hatte.
Und in diesem Moment beschloss er, den Unterricht um eine Woche zu verlängern. Gleich heute Abend würde er mit den Eltern darüber reden. Er hoffte inständig, dass er die Unverzüglichkeit der Abreise damit nicht allzu großzügig auslegte. In ihm reifte die Gewissheit, dass der Stein in seine Heimat zurückgerufen wurde. Nicht durch einen bloßen Zufall war Nondol dieses Unglück widerfahren, sondern es hatte geschehen müssen . Der Kristall wurde dort, wo er hingehörte, womöglich bereits sehnsüchtig erwartet.
Unruhe überfiel ihn bei diesem Gedanken.
Mingar hatte recht gehabt. Die dritte Unterrichtswoche war mehr als nötig gewesen. Nun aber war der Abend des letzten Tages angebrochen. Wie üblich saß er mit seinen Zöglingen in der Stube seiner Hütte und hatte soeben den Rest der nicht enden wollenden Fragen beantwortet, die sie noch an ihn gerichtet hatten.
Als sich draußen die Dämmerung über das Dorf legte, tranken sie zusammen den Rest ihrer Krüge aus und schwiegen eine kurze Weile. Dann erhob sich Mingar mit den Worten: „Nun gut meine Freunde. Ich möchte jetzt keine großen Worte mehr von mir geben. Jedenfalls, wie gesagt, morgen werdet ihr also beide aufbrechen um den Kristall in seine Heimat zu bringen, wo er sicherlich sehnlichst erwartet wird. Ich habe euch, so gut es in der kurzen Zeit möglich war, auf dieses Unterfangen vorbereitet. Ihr werdet auf Hindernisse treffen, aber ihr werdet sie überwinden und es schaffen, ans Ziel zu gelangen. Das ist meine Überzeugung und mehr möchte ich dazu nicht mehr sagen.“
Die letzten Worte hatte er zwar mit einer Bestimmtheit hervorgebracht, die keinen Zweifel erlaubten. Dennoch waren sowohl er selbst, als auch die beiden Jungen, von solchen geplagt.
Mingar hatte es aber auch vollbracht, ihnen genügend Selbstvertrauen und Zuversicht zu vermitteln, um sie ihre Reise beherzt angehen zu lassen.
Nun stand er, wie schon so oft in den vergangenen Tagen, an der geöffneten Türe um seine beiden Schüler in den Abend zu entlassen. Bevor sie jedoch hinaus traten, blieben sie beide vor ihm stehen und jeder von ihnen streckte ihm die rechte Hand entgegen, wobei Nondol etwas verlegen nach Worten suchte und schließlich sagte: „Onkel Mingar, wir möchten uns beide bei Dir bedanken. Du hast in den letzten drei Wochen so unglaublich viel für uns getan, uns so viel beigebracht.“ Dann, nach einer kurzen Unterbrechung: “Du hast andere Belmaner, fast Männer, aus uns gemacht. Nun ja, dafür danken wir dir von Herzen.“
Mingars Rührung war echt, als er antwortete: „Das ist schön von euch beiden. Aber eigentlich habt ihr gar keinen Grund zur Dankbarkeit. Es ist durchaus möglich, dass ich eine Veränderung in euch beiden bewirkt habe. Aber in viel wesentlicherem Maße wird dies die Reise tun, die ihr vor euch habt. Ich kann euch nämlich eines versichern. Wenn ihr dereinst wieder hierher zurückkehrt, werdet ihr nicht mehr Diejenigen sein, die ihr bisher ward.“
Ihre fragenden und zugleich erschreckten Mienen riefen ein trauriges Lächeln auf dem Gesicht des alten Mannes hervor und er sah sich veranlasst, sie zu trösten. „Macht euch keine zu großen Gedanken über meine Worte. Später werdet ihr sie verstehen.“
Da er auch damit keine Wirkung erzielte, sprach er mit gütiger Stimme weiter: „Ich meine damit nicht, dass ihr keine Belmaner mehr sein werdet, wenn ihr zurückkommt. Solche werdet ihr immer bleiben. Die Umstände reißen euch zwar jetzt für eine Weile aus eurem Dorf heraus. Aber niemand wird je euer Dorf aus euch herausreißen können.“
Als sie ihn immer noch verständnislos ansahen, beendete er die Situation mit dem Auftrag: „Wie auch immer, geht jetzt, wie besprochen zu Krangor. Er wird euch die Sachen geben, die bei ihm hinterlegt sind und die ihr dringend brauchen werdet. Er weiß darüber bescheid und sagt ihm bitte viele Grüße von mir und meinen Dank dafür, dass er die Besorgungen erledigt hat.“
Nachdem die Beiden, wie geheißen, bereits einige Schritte in Richtung Krangors Hütte getan hatten, konnte Mingar es sich nicht verkneifen, sie erneut anzuhalten. Mit einem verschmitzten, wissenden Lächeln wandte er sich an seinen Großneffen: „Und du, Nondol, wirst dich ja ohnehin noch von Garlina verabschieden wollen, nicht wahr?“
Nondol konnte in diesem Moment nicht verhindern, dass ihm eine deutlich sichtbare Röte ins Gesicht stieg. Verlegen und ohne Worte wandte er sich ab und setzte seinen Weg so schnell fort, dass Walgin Mühe hatte, zu ihm aufzuschließen und zu fragen: „Was soll das denn heißen, Nondol?
„Ach nichts“, erwiderte dieser ärgerlich. „Das Geschwätz eines alten Mannes, weiter nichts.“
Angesichts des Tonfalles seines Freundes erschien es Walgin klüger, nicht noch einmal nachzufragen und so setzten sie schweigend ihren Weg fort.
In Nondols Kopf aber überschlugen sich die Gedanken. Woher konnte der alte Mann wissen, dass er sich zu Garlina, Krangors Tochter, hingezogen fühlte? Weder Walgin, noch seine Eltern, noch sonst jemand hatte davon eine Ahnung. Niemandem hatte er je davon erzählt. Niemand konnte davon wissen. Am aller wenigsten Garlina selbst! Es ärgerte ihn, dass er so etwas vor seinem scharfsinnigen Großonkel nicht hatte verheimlichen können. Aber wie auch immer – der alte Mann hatte recht damit.
Irgendwann, ganz langsam und zunächst unbemerkt, war in ihm ein Verlangen nach Garlinas Gesellschaft herangereift. Nach und nach war ihm aufgefallen, dass er sich ihre Anwesenheit herbeisehnte, ihren liebreizenden Anblick, ihr Lachen und ihre Stimme. Er wurde rot und verlegen, wenn sie sich begegneten und er bildete sich seit einiger Zeit ein, dass es auch ihr so erging. Wie oft hatte er nachts vor dem Einschlafen mit offenen Augen davon geträumt, dass sie plötzlich da war, sich zu ihm herunter neigte, ihm ein vielversprechendes Lächeln schenkte und ihn küsste. Und noch mehr hatte er sich vorgestellt.
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