1 ...7 8 9 11 12 13 ...21 Nun richtete Mingar seinen Blick zu Nondol: „Auch dir habe ich noch nicht die ganze Wahrheit gesagt, mein Junge. Es war nicht nur die gute Medizin, die dich so schnell und unerwartet wieder gesund werden ließ.“
Er umrundete nun langsam und nachdenklich den Tisch, so als ob er nach den richtigen Worten suchen müsste. Dann blieb er stehen und sprach die beiden Jungen an: „Ich möchte hier nicht weiter über dieses Thema sprechen. Deshalb schlage ich vor, dass ihr beide erst einmal in aller Ruhe eure Suppe und etwas Brot esst. Danach kommt ihr bitte beide zu mir und wir setzen uns zusammen, um ein ausführliches Gespräch zu führen. Ich habe euch einiges zu sagen. Aber keine Angst, es wird nichts mit Vorwürfen oder dergleichen zu tun haben. Was ich euch zu berichten habe, ist wesentlich weitreichender und … „
An dieser Stelle unterbrach er sich, hielt kurz inne und sagte dann nur noch: „Aber das alles erkläre ich euch dann in meiner Hütte. Mehr möchte ich momentan nicht dazu sagen“.
Dann wandte er sich an Emnor und Nawina. „Auch mit euch muss ich mich noch unterhalten. Aber das hat Zeit. Jetzt sind erst einmal die beiden Jungen dran. Fürs erste sollten wir froh und glücklich sein, dass Nondol seine Verletzung überstanden hat. Alles weitere ist momentan nicht so vordringlich“.
Als Nawina zu einer Frage ansetzte, unterbrach Mingar sie mit einer Geste: „Nein Nawina, bitte frag jetzt nichts. Wie gesagt, es gibt einiges zu erklären. Ich möchte das aber auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Ich kann dir vorläufig nur so viel sagen; es wird eine längere Geschichte, die ich dir und Emnor zu erzählen habe. Aber wie ich bereits sagte. Erst einmal sind die beiden hier an der Reihe“. Damit zeigte er auf Nondol und Walgin.
Um die Angelegenheit abzuschließen, wandte er sich um und ging rasch zur Türe. Als er den Raum verlassen hatte, kehrte Stille ein. Das ausgelassene Lachen, das kurz zuvor noch das kleine Häuschen erfüllt hatte, war innerhalb kürzester Zeit vergessen und hatte einer bedrückenden Nachdenklichkeit Platz gemacht. Die abrupte Änderung der Stimmung hatte sie alle überrascht. Nicht nur Walgin war mit der Situation etwas überfordert.
Er wollte eigentlich nur nach seinem Freund sehen, wollte ihn besuchen, sich nach seinem Befinden erkundigen und hoffen, dass er bald wieder gesund sein möge. Dabei hatte es sich ohnehin nur um eine sehr vage Hoffnung gehandelt. Insgeheim hatte er eher befürchtet, sein Freund liege fiebernd und nicht ansprechbar darnieder. Stattdessen hatte er ihn vollkommen erholt am Tisch sitzend angetroffen, war mit einem kollektiven Lachanfall empfangen worden und nun saßen sie alle hier beisammen und es herrschte betretenes Schweigen.
Was war denn nur geschehen? Walgin konnte sich aus all dem keinen Reim machen. Mingars rätselhafte Worte schwirrten immer noch durch seinen Kopf. Warum hatte er ihnen nicht einfach gesagt, was los war?
Er richtete seinen Blick zu Emnor. Dieser hatte den Kopf in beide Hände gestützt und blickte nur betreten und mit nachdenklicher Miene in seine Suppenschüssel. Und auch Nawina und Nondol sahen sich gegenseitig ratlos an. Dann wandte sich Nondols Mutter zu ihm und sagte: „Walgin, mein Junge, schön, dass du so früh aufgestanden und gekommen bist. Du bist wirklich ein guter Freund. Hast du denn schon gefrühstückt?“
Walgin schüttelte den Kopf: „Nein, ich habe aber Mutter versprochen, dass ich gleich zurückkomme und meine Suppe esse.“
„Ach nichts da“, warf Nawina energisch ein. „Du bekommst hier bei uns deine Suppe. Ich muss nachher ohnehin zu deiner Mutter und rede mit ihr. Jetzt setzt du dich erst einmal zu Nondol. Ich bringe dir gleich dein Essen. Und wenn ihr euch satt gegessen habt, geht ihr gemeinsam zu Mingar. Ihr habt ja gehört, was er gesagt hat.“ Damit erhob sie sich und machte sich an der Anrichte zu schaffen. Sie kramte eine große Holzschüssel hervor und befüllte sie an der Feuerstelle mit dem Schöpfer. Danach stellte sie das Gefäß mit der köstlich duftenden Kräutermilch-Suppe vor Walgin auf den Tisch und legte auch noch zwei große Scheiben Brot daneben.
In diesem Moment erhob sich Emnor, seufzte einmal tief und sagte dann zu seiner Frau: „Komm, lassen wir die beiden in Ruhe essen. Wir haben ohnehin im Stall zu tun“. Nawina nickte nur leicht, griff sich noch rasch einen Eimer, der am Boden neben der steinernen Feuerstelle gestanden hatte und verließ dann zusammen mit ihrem Mann die Hütte.
Kaum hatte sich die Tür hinter ihnen geschlossen, wandte sich Walgin an seinen Freund und es sprudelte aus ihm heraus: „Nondol, was ist denn hier los? Wie ist es denn nur möglich, dass du so schnell wieder gesund geworden bist? Was hat Mingar denn mit dir gemacht? Wieso tut er so geheimnisvoll?
„He, he, langsam, langsam Walgin“ wurde er von Nondol unterbrochen. „ Ich weiß genau so wenig wie du, was hier los ist.“
„Aber Nondol, du warst gestern am späten Nachmittag noch halb tot. Ich hab deine Verletzung gesehen. Du wärst beinahe verblutet! Und durch die dreckigen Krallen dieses Adler-Mistkerls müsstest du doch eigentlich eine schreckliche Entzündung bekommen haben. Das gibt es doch gar nicht, dass du hier herum sitzt und scheinbar wieder vollkommen gesund bist!“ polterte Walgin erneut los.
Wiederum musste Nondol den Redefluss seines Freundes bremsen. „Ja, du hast ja recht. Aber das letzte, an das ich mich erinnern kann...“ Nach einer kurzen Atempause musste er erneut ansetzen: „Also ich weiß nur noch, dass mich der Adler angegriffen hat, dann lag ich auf dem Waldboden und du hast mir geholfen, zu Loska zu kommen. Ich weiß, dass ich schlimm geblutet habe und immer schwächer wurde. Dass du mich dann auf Loskas Rücken festgebunden hast, hab ich schon nicht mehr mitgekriegt. Das haben sie mir erst heute erzählt.“
Bei seinen letzten Worten hatte Nondol sich erhoben und mit beiden Händen über seine Schultern gegriffen, um sein Hemd bis in den Nacken hochzuziehen. Mit den Worten: „Hier, sieh dir das an“ drehte er sich so, dass Walgin einen Blick auf seinen Rücken werfen konnte.
Dieser schob geistesabwesend seine Schüssel etwas beiseite und stand ebenfalls auf. Mit fassungsloser Miene näherte er sich langsam seinem Freund und fuhr mit der rechten Hand über die Narbe an Nondols Rücken. Er konnte einfach nicht glauben, was er sah. Er war davon ausgegangen, einen straffen Verband vorzufinden unter dem sich eine schreckliche, entzündete Wunde über den Rücken zog. Aber Nondol trug weder einen Verband, noch war etwas zu sehen, das nach einer tiefen, blutenden Verletzung aussah. Alles, was der junge Belmaner erkennen konnte, war eine lange Narbe, die sich neben der Wirbelsäule seines Freundes der Länge nach über den Rücken erstreckte.
Es war kaum mehr als ein Flüstern, das Nondol nun aus dem Mund seines Kameraden vernahm: „Aber Nondol, das ist doch nicht möglich. Das ist ja völlig verheilt! Du hast da nur noch eine lange Narbe. Und selbst die sieht aus, als ob die Verletzung nicht erst von gestern, sondern bereits vom letzten Sommer wäre.“
Einige Augenblicke standen sie noch wortlos da und Walgin konnte seinen Blick nicht von der verheilten Wunde lösen. Dann zuckte Nondol mit den Schultern, so als wollte er damit seine Ratlosigkeit zum Ausdruck bringen, und ließ dann sein Hemd wieder über den Rücken fallen. Mit einem erneuten Schulterzucken setzte er sich an den Tisch um mit dem Verzehr seiner Suppe fortzufahren. Auch Walgin nahm seinen Platz wieder ein, griff zum Löffel und machte sich ebenfalls über die verführerisch duftende Suppe her. Nach einer weiteren Weile des Schweigens und Essens meinte Nondol dann: „Ich bin wirklich gespannt, was Mingar uns zu erzählen hat.“
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