„Mingar“ stieß Nawina mit leiser Stimme hervor „was willst du denn mit ...“
„Geht hinaus“ unterbrach er sie mit rauer Stimme . „Geht!“
In einem weitaus sanfteren Ton fügte er hinzu: „Bitte ... Nawina, frag mich nicht. Stell mir keine Fragen jetzt. Wenn ich euren Sohn retten soll, dann geht jetzt bitte und achtet darauf, dass ich nicht gestört werde, bis ich euch bescheid sage.“
Unsicher und fragend blickte Nawina zu ihrem Mann hoch. Der sah sie mit steinerner Miene an, dann richtete er den Blick kurz zu Mingar, der ungeduldig zwei Schritte in den Raum getreten war und nickte ihr schließlich kaum merklich zu. Als er merkte, dass sie sich nicht zum Gehen entschließen konnte, dirigierte er sie mit sanfter Gewalt an ihrem Onkel vorbei zur Tür, die aus dem kleinen Zimmer hinaus in den geräumigen Hauptraum der Hütte führte.
Die Gelegenheit, sich im Türrahmen noch einmal umzuwenden und Blickkontakt mit Mingar aufzunehmen blieb ihm versagt, denn gerade als er sich dazu anschickte, verschloss der alte Mann die Tür von innen. Einige Augenblicke blieb Emnor stehen, strich sich mit beiden Händen langsam von oben nach unten über sein Gesicht, um sich dann wieder Nawina zuzuwenden.
Sie war in wenigen Augenblicken um Jahre gealtert. Mit den Bewegungen einer uralten Greisin schlurfte Nawina zum Tisch, zog sich unendlich langsam einen Stuhl zurecht und ließ sich dann erschöpft und mit einem Mitleid erregenden Seufzer darauf nieder. Emnor trat an ihre Seite und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Zusammengesunken und mit im Schoß gefalteten Händen sah sie zu ihm hoch.
Es bedurfte jetzt keiner Worte um sich zu verständigen. Sie sahen sich lange schweigend an und schließlich nahm Emnor ebenfalls auf einem der primitiv gezimmerten, robusten Stühle Platz und legte die Hände auf den Tisch. Es entging ihm nicht, dass Nawina immer wieder ängstlich und erwartungsvoll zur Tür blickte, hinter der sich Mingar um ihren so schwer erkrankten Jungen bemühte. Er spürte aber auch, dass es in diesem Moment besser war, sie mit ihren Gedanken alleine zu lassen und nicht mit Worten zu stören.
Nawina vertraute Mingar. Sie hatte ihm ruhigen Gewissens stets vertrauen dürfen. Aber nicht nur sie – alle Bewohner des kleinen Dorfes schenkten Mingar ihr uneingeschränktes Vertrauen. Zu ihm kam man, wenn man Rat suchte. Mingar konsultierte man, wenn jemand krank war. Niemand hatte so viel Wissen von den heilenden Wirkungen der verschiedensten Kräuter und Mixturen, wie der alte Mann. Er hatte auf beinahe alle Fragen eine Antwort und trug ein Wissen in sich, das alle Dorfbewohner erstaunte. Mingar war Heiler, Lehrer und Ratgeber in einer Person. Man liebte ihn und brachte ihm Respekt entgegen.
Trotzdem fühlte Nawina plötzlich eine lähmende Angst vor dem, was nun geschehen würde .... was er tun würde. Der Mann, den sie seit ihrer Kindheit kannte und liebte, hatte sich auf so dramatische Weise verändert. Und wie um alles in der Welt sollte er mit einem Messer und einem Beutel voller Geheimnisse ihrem Sohn helfen?
Was geschah jetzt in diesem Raum?
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Mingar stand vor Nondols Bett und blickte lange und regungslos auf den Jungen nieder. Den Lederbeutel mitsamt seinem Inhalt und das reich verzierte Messer hatte er auf dem Hocker abgelegt , auf dem immer noch der geleerte Holzbecher stand.
Nondol lag mit weit geöffnetem Mund auf dem Rücken. Sein Atem ging keuchend, seine Haut glühte nun heiß und trocken. Mingar beugte sich nach vorne, zog die Schafwolldecke, die ohnehin nur noch die Beine des Kranken bedeckt hatte, beiseite und schleuderte sie achtlos in eine Ecke des Raumes. Dann drehte er den Liegenden vorsichtig zur Seite, so dass er die Rückenwunde freilegen konnte. Zunächst wickelte er die um den Körper geschlungenen Binden ab. Danach machte er sich daran, die mit Heilsalbe getränkten Leinenkompressen von der Wunde zu ziehen. Auch diese Dinge ließ er achtlos auf den staubigen Boden fallen, so als ob er wüsste, dass sie nicht mehr benötigt würden.
Nur kurz warf er einen Blick auf die furchtbar entzündete Furche am Rücken seines Patienten, während er ihn in Bauchlage brachte. Jetzt hielt er kurz inne, kniete sich dann zu Boden und wandte sich dem Hocker zu, auf dem der Lederbeutel lag. Mit flinken Bewegungen löste er die dünne, verknotete Schnur, zog die geraffte Öffnung auseinander und fasste mit der linken Hand hinein. Als er sich wieder aufrichtete, betrachtete er einen kleinen, aus glänzendem, dunkelgrünen Kristall bestehenden Gegenstand. Der Kristall glich in Größe und Form einem Taubenei. Die Oberfläche war glatt und glänzend. Von einem Ei unterschied ihn lediglich der Umstand, dass beide Enden identisch geformt waren.
Mingars Gesicht glich einer ausdruckslosen Maske als er bewegungslos verharrte und lange, ohne sichtbar zu atmen, auf das kalte, grüne Ding in seinen Händen blickte. Er betrachtete es nachdenklich, drehte es einige Male unentschlossen zwischen den Fingern und führte es dann hoch, so dass es sich vor seinem Gesicht befand.
Im Innern des grünen Kristalls – etwa dort, wo man bei einem gewöhnlichen Ei den Dotter vermuten würde – erkannte er nun ein rotes Glühen. Je länger Mingars Augen darauf ruhten, um so mehr hatte er den Eindruck, als würde das „Glutherz“ nicht gleichbleibend leuchten, sondern unruhig wabern und pulsieren.
Nach einer Weile der stummen Betrachtung kam ein Seufzen über Mingars Lippen und er flüsterte: „Nenuana, du Gute. Hab unendlichen Dank für dieses große Geschenk. Aber was muss ich tun, Nenuana – was?“
Erneut betrachtete er ratlos, ja beinahe verzweifelt, das geheimnisvolle „Glut-Ei“ in seinen Händen. Und als ob jemand vor ihm stünde, begann er ein kaum hörbares Gespräch.
„Wie sagtest du damals? Wenn du den Inhalt des Beutels jemals brauchen solltest, wirst du wissen, was zu tun ist! Ja, so sagtest du. Aber ich weiß es nicht, Nenuana; ich weiß es nicht!
Sein anfangs kaum hörbares Flüstern war mit diesen Worten immer lauter geworden.
„Wie sehr habe ich damals mit mir gerungen, ob ich dieses Geschenk von dir annehmen soll, oder nicht. Nun bin ich froh, es nicht abgelehnt zu haben, Nenuana! Aber nun knie ich hier und weiß nicht, was zu tun ist. Sag es mir, Nenuana. Bitte sag es mir.“
Tränen der Verzweiflung flossen nun über Mingars Gesicht, während Nondol auf seinem Lager ein leises Stöhnen von sich gab. Und so, als ob er dieses Stöhnen als Aufforderung verstanden hätte, wandte Mingar sich, immer noch auf Knien, mit dem „Glut-Ei“ in der rechten Hand seinem Großneffen zu.
Ganz langsam führte er es über die Rückenwunde, senkte es langsam und legte es dann auf Nondols Rücken; direkt auf die entzündete, lange Wunde. Vorsichtig balancierte er den Kristall so aus, dass er liegen blieb und erhob sich dann langsam. Sofort verstummte Nondols Stöhnen und ging in ein gleichmäßiges, ruhiges Atmen über.
Eine Weile stand Mingar so neben dem Bett und sah voller Erwartung und Schmerz auf den schwerkranken Nondol nieder, auf dessen Rücken nun der geheimnisvolle, grüne Stein lag.
Die Minuten verstrichen aber es tat sich nichts.
Voller Ungeduld kniete Mingar erneut nieder, legte sanft und vorsichtig die rechte Hand auf das gläserne Ei und verhielt so einige Sekunden, ohne zu wissen, warum er dies eigentlich tat.
Wieder wartete er eine Weile – wieder vergeblich. Dann erinnerte er sich plötzlich an das Messer. Er lenkte seinen Blick nach links und starrte auf den weißen Elfenbeingriff, als ob er von ihm eine Antwort erwartete. Nach einem Augenblick der Ratlosigkeit ergriff er mit seiner Rechten das Messer und zog es aus der reich verzierten Scheide. Im Halbdunkel des kleinen Raumes glänzte die scharfe, spitze Klinge, wie poliertes Silber. Wie in Trance führte er die Messerspitze an seine linke Hand und setzte sie an die Fingerkuppe des Zeigefingers. Dann drückte er dagegen, bis die haarscharfe Spitze in seine Haut eindrang und eine kleine Verletzung verursachte. Schnell legte er das Messer wieder auf den Schemel.
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