„Oh Walon, bitte hilf ihm, dass er es schafft“ ging es ihm durch den Kopf, während er, mit einer Hand die rutschende Hose festhaltend, lief und lief und sich zwischendurch immer wieder über die Augen wischte, wenn der Tränenvorhang ihm den Blick zu verschleiern begann.
Wie konnte dieser Tag nur so einen Ausgang nehmen? Er hatte doch begonnen, wie so viele andere auch. Morgens war er, wie üblich, zeitig aufgestanden und hatte die Tiere im Stall gefüttert, danach ausgemistet und die Ziegen gemolken. Später war er gemeinsam mit Nondol und noch zwei anderen gleichaltrigen Jungen zu Mingars Hütte gegangen und sie hatten sich eine jener aufregenden Geschichten angehört, die dieser auf seinen jahrelangen Reisen – angeblich - erlebt hatte.
Walgin erinnerte sich, dass er nach dem Mittagsmahl wieder Nondols Eltern aufgesucht hatte und dort erfuhr, dass sein Freund - wohl um Kräuter für Mingar zu besorgen – kurz zuvor zur Feuchtwiese aufgebrochen war. Dort hatte er aber vergeblich nach ihm gesucht und dann war ihm in den Sinn gekommen, dass Nondol sich vielleicht bei der Hohen Wand aufhalten könnte.
Deshalb hatte er Loska gesattelt und sich dorthin auf den Weg gemacht. Tatsächlich hatte er ihn bald darauf vor dem Abgrund stehend entdeckt und wollte sich soeben anpirschen, um ihn zu erschrecken, als der gemeine Angriff „dieses elenden Federbalgs“ erfolgte.
Was weiter geschehen war, hätte er am liebsten aus seinen Gedanken verbannt, doch es wollte ihm einfach nicht gelingen. Das zerrissene und blutgetränkte Hemd, die schreckliche Rückenwunde, das fahle Gesicht und sogar Nondols röchelnder Atem ließen sich einfach nicht aus seinen Kopf vertreiben. Immer wieder sah er all diese schrecklichen Dinge vor sich und es nutzte auch nichts, ganz fest und wütend die Augen zu schließen.
Und dann, endlich, lichtete sich der Wald und vor ihm erstreckte sich die langgezogene, sonnenüberflutete Dorfwiese. Er überquerte sie auf dem kürzesten Weg, lief vorbei an den Holzgattern, in denen die Ziegen grasten und konnte, Walon sei gepriesen, schon von weitem Loska erkennen. Sie trottete gelangweilt und mit zu Boden hängenden Zügeln über den sauber gefegten Platz in der Mitte des Dorfes und blickte freudig hoch, als sie seiner ansichtig wurde. Er konnte sich aber jetzt unmöglich mit ihr beschäftigen, sondern lenkte seine Schritte stracks auf Nondols Elternhütte zu.
Offenbar hatte man im Inneren sein Kommen bemerkt, denn Nondols Mutter, die füllige Nawina erschien aufgelöst in der Eingangstüre und eilte sofort auf ihn zu. „Oh Walgin, da bist du ja endlich! Was ist denn nur geschehen? Oh ihr Unglückseligen, was habt wieder angestellt? Wie konnte Nondol sich so schlimm verletzen? Was habt ihr nur getrieben? War es ein Tier?“
Walgin, noch völlig außer Atem, konnte sich nicht entscheiden, welche Frage er zuerst beantworten sollte. Zu allem Überfluss eilten nun auch noch seine Eltern und einige andere Dorfbewohner herbei, um ihn zu umringen und neugierig und lautstark mit Fragen zu bedrängen.
Obwohl er eigentlich selbst gerne erfahren hätte, wie es seinem verletzten Freund ging, blieb ihm schier nichts anderes übrig, als mit tränenunterdrückter Stimme zu antworten: „Ich kann nichts dafür... er auch nicht (damit meinte er Nondol ).., es war der Adler, dieses Elendsvieh... er hat ihn angegriffen... Nondol hatte ihm gar nichts getan... er hat ihn einfach angegriffen... den Rücken hat er ihm aufgekratzt oben an der Hohen Wand, dieser Mistvogel... dann hab ich Nondol zu Loska geschleppt und ihn darauf angebunden, damit er schneller zu Hause ist... er hat doch so furchtbar geblutet ... und ich konnte nicht so schnell laufen... ja... und jetzt bin ich auch da. Und jetzt... bitte... sagt mir, wie es Nondol geht. Er wird doch wieder gesund, oder?“
Nawina, die Walgin ungeduldig an beiden Schultern gepackt hatte, um die Antworten schneller aus ihm herauszuschütteln, fasste sich wieder und antwortete überraschend ruhig und mit sehr mütterlicher Stimme: „Ja ja, er wird schon wieder, er wird schon wieder, Walgin. Mingar kümmert sich um ihn. Ach so war das! Ein Adler hat ihn angegriffen! Das muss ich Emnor erzählen!“
Schon wandte sie sich wieder um und strebte eilig auf die Eingangstüre ihres Blockhauses zu. Doch dann hielt sie mitten im Schritt inne, wendete und eilte mit ausgebreiteten Armen abermals auf Walgin zu, um ihn kräftig an ihre üppige Brust zu drücken. „Oh Walgin!“ rief sie mit hochdramatischer und von Schluchzen begleiteter Stimme. „Oh Walgin, du guter Junge! Das hast du wirklich gut gemacht! Was für ein guter Freund du doch bist! Oh ich danke dir tausendmal! Oh du Segensreicher; Walon soll dir ewiges Leben schenken, mein guter Junge!“
Und noch ehe Walgin recht begriff, wie ihm geschah, packte ihn die vor Dank ergriffene Nawina erneut an den Schultern und küsste ihn auf die Stirn, immer und immer wieder.
Obwohl Walgin angesichts der zahlreichen Zuschauer die Verlegenheitsröte ins Gesicht stieg und er sich in diesem Moment nichts sehnlicher wünschte, als dass dieses Küssen bald ein Ende nehmen möge, wehrte er sich nicht dagegen. Geduldig ließ er es geschehen, weil er Nondols Mutter gut genug kannte, um zu wissen, dass ihr Herz in diesem Augenblick von ehrlicher Dankbarkeit erfüllt war und er sie auf keinen Fall kränken wollte, indem er sich in irgend einer Weise wehrte.
Schließlich war es seine Mutter, die ihn aus dieser heiklen Situation befreite, indem sie herantrat, ihm den Arm um die Schulter legte und ihn sanft aus Nawinas „Gewalt“ befreite.
„Komm Junge“ sagte sie leise und in einem mehr als mütterlichen Ton „jetzt gehen wir erst einmal nach Hause. Dann kannst du dich waschen und hinterher erzählst du uns alles ganz von vorne und der Reihe nach. Jetzt komm.“ Mit den letzten Worten führte sie Walgin bereits mitten durch die herumstehende Dorfgemeinschaft auf die heimatliche Hütte zu.
„Aber, Mutter, ich wollte noch ..“.
„Später “ unterbrach sie ihn „später kannst du dann nach Nondol sehen. Der muss jetzt erst einmal ordentlich versorgt werden. Morgen früh, wenn es ihm wieder besser geht, besuchst du ihn dann.“
Walgin sah ein, dass seine Mutter in diesem Fall wohl recht hatte. Jetzt war wirklich nicht die Zeit für einen Krankenbesuch. Er stellte sich vor, wie Nondol von seiner Mutter und Mingar gesäubert wurde, wie sie ihm Heilsalbe auf die schreckliche Verwundung strichen und ihn anschließend, in einen dicken Verband gehüllt, in sein Bett legten. Und er war sicher, dass die fürsorgliche Nawina bis zum nächsten Morgen an Nondols Bett wachen würde.
Ja, das würde sie tun - so wie es seine Mutter auch bei ihm getan hätte. Mütter sind etwas Sonderbares und Wunderbares, ging es ihm durch den Kopf.
Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als sich die Eingangstür zu ihrem Blockhaus mit einem leisen Ächzen öffnete und sie das Halbdunkel der großen Stube betraten. Etwas später setzte ihm seine Mutter eine kräftige Kräuter-Käse-Suppe mit Schwarzbrot vor, die er mit dem gesunden Appetit eines Heranwachsenden verzehrte.
Während sein Vater sich um die allabendliche Versorgung der Stalltiere kümmerte, verrichtete seine Mutter zunächst die nötigste Hausarbeit und setzte sich dann zu ihm an den Tisch. Sie sprach nicht gleich, aber Walgin spürte, dass sie ihm etwas Wichtiges zu sagen hatte und offensichtlich nicht wusste, wie sie das Gespräch beginnen sollte. Er wollte seiner Mutter die Entscheidung erleichtern und fragte deshalb: „Soll ich dir jetzt erzählen, was heute genau passiert ist?“
„Nein“ antwortete sie, „warte lieber noch bis dein Vater da ist, sonst musst du es womöglich zweimal erzählen. Er wird ja wohl gleich kommen. Er bringt Loska noch in den Stall.“
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