Pauline zeigte ihr, wohin sie gehen sollte. „Hier hinein, zum Maße nehmen!“
Olivia ging in das Zimmer und wurde von oben bis unten von einer schicken Dame im Minirock vermessen. „Ein bisschen zu dick!“, meinte die Frau, die sie unter die Lupe nahm. „Du solltest einige Kilos abnehmen, sonst hast du keine Chance!“
Olivia verzog verlegen die Miene. „Geh jetzt zum Hairstylisten!“, meinte die Frau.
„O.K.!“ Olivia ging in das Zimmer.
Der Hairstylist strich ihre Haare zurecht und befestigte es mit Spray. „Gelungen!“, meinte er schließlich zufrieden und schickte sie zur Visagistin.
„Schönes Gesicht!“, meinte diese bewundernd. Dann richtete sie ihr das Make-up und schickte sie in das Fotozimmer.
„Komm schon, komm schon!“ Der Fotograf packte sie am Arm und zerrte sie auf eine Bank. Dort musste sie verschiedene Posen einnehmen und der Fotograf schoss unaufhörlich ein Bild nach dem anderen.
„Ein bisschen mehr Leidenschaft, mehr Ausdruck!“, rief er ihr geschäftig zu. „Du willst doch auf dich aufmerksam machen. Bisher können wir noch kein einziges Foto für die Kampagne gebrauchen!“, meinte er, obwohl er schon eine ganze Reihe von Fotos geschossen hatte.
„Drama, Baby, Drama!“, rief er ihr zu. „Mehr Action! Du willst doch unvergleichlich sein!“
Er gab ihr weitere Anweisungen, was sie zu tun hatte und sie versuchte, alles so gut wie möglich umzusetzen, befolgte seine Befehle, verzog ihre Miene und verbog ihren Körper.
„Schon besser, Baby!“, rief er etwas freundlicher. „Aber es fehlt dir noch der X-Faktor!“
„X-Faktor?“
„Das besondere Etwas, Baby! Der Grund, warum man dich buchen sollte und nicht die anderen Girls!“
Sie gab ihr Bestes.
„Noch besser, ja, ja, jetzt hast du es!“ Er fotografierte unaufhörlich. „Hätte ich nicht gedacht, dass das noch was wird.“
Sein Lob freute sie so sehr, dass sie ganz aus sich herausging.
„Klasse, klasse, fuck, das ist Klasse!“, rief er fast schon enthusiastisch und fotografierte weiter.
Jetzt ließ sie sich ganz unter seinen freudigen Rufen der Bewunderung gehen.
„Es reicht!“, meinte er schließlich. „Wir haben genug!“
Sie fiel zufrieden in sich zusammen.
Der Fotograf schickte sie in den Raum mit der Aufschrift „Sedcards“.
Auch hier empfing sie ein junges Mädchen hinter einem großen Glasschreibtisch. Sie nahm die Fotos, die gerade aus dem Drucker kamen, klebte sie auf eine Karte, schob sie durch ein Laminiergerät und reichte sie Olivia. „Hier deine Sedcard!“
„Wow!“, entfuhr es ihr. „Schon fertig!“
„Und dein Composite ist auch schon in der Computerkartei!“
„Composite?“
„Deine digitale Sedcard eben! Jedes Mal, wenn jetzt ein Kunde nach einem bestimmten Typ verlangt und unsere Files durchsieht, kann er auch dein Composite bewundern!“
„Das ist ja wie in der Verbrecherkartei bei der Polizei!“, meinte Olivia und grinste.
Aber das Mädchen sah sie nur humorlos an.
Da schwieg sie.
„Und immer schön aufheben!“, meinte das Mädchen und zeigte auf die Sedcard. „Die musst du immer dabei haben, wenn du dich irgendwo bewirbst!“
Olivia nahm sie ehrfurchtsvoll entgegen.
„Du hast gute Chancen. Du hast zwar große Konkurrenz, aber der Markt schreit nach „New Models“!“
„Prima!“, meinte Olivia. „Aber für die alten Models ist das wohl schlecht?“
Das Girl sah sie wieder verständnislos an. „Du kriegst eine Mail, wenn wir dich brauchen!“
Olivia wollte schon gehen, aber da spürte sie, wie ein Raunen durch den Raum ging. Sie drehte sich um und sah, wie die Mädchen alle in eine Richtung blickten. Ein Mann kam aus einem Büro und holte sich etwas hinter Paulines Tresen. Er war etwa 45 Jahre alt, groß, schlank, durchtrainiert, schwarzhaarig, braungebrannt. Er sah selbst wie ein reifes Malemodel aus. Olivia betrachtete ihn neugierig, da ihm die anderen so viel Aufmerksamkeit widmeten. Der Mann lächelte sie an und verschwand wieder in seinem Büro.
„Das war wohl der Chef!“, flüsterte sie zu Pauline.
„Schlimmer. Die Agentur gehört einer Chefin, aber die repräsentiert nur und ist meistens nie da. Das war dein eigentlicher Boss, dein Booker!“, erklärte Pauline und deutete in Richtung des Büros, auf dem „Booker“ stand. „Tony Anderson, dein Booker. Der wichtigste Mann in diesem Business und von jetzt an in deinem Leben. Er vermittelt dich, er vermarktet dich und sucht nach Jobs für dich. Er ist hier sozusagen Gott und das weiß er. Du wirst ihn kennenlernen, falls wir dich brauchen.“
Olivia nickte ehrfurchtsvoll. Dann nahm sie ihre Sedcard und war im nächsten Moment auf der Straße. Sie blieb einen Augenblick stehen. Sie war überrascht, dass es schon dunkel war. Sie versuchte, Paul auf dem Handy anzurufen, aber er war vorübergehend nicht erreichbar.
7
„Puh, da ist ja wieder was los!“, stöhnte Paul und zwängte sich mit den anderen Fahrgästen in Richtung der Eingangstüren der U-Bahn. Es war die Abendrushhour und die U-Bahn war wie immer hoffnungslos überfüllt. Am Ende der Rolltreppen entstand aus den noch halbwegs geordneten Schlangen eine unspezifische Masse aus Köpfen, Armen, Körpern und Beinen, eine Melange aus Schweiß und Atem, ein Strom aus Menschen, der unaufhaltsam zu den Türen drängte und dem man nicht entgehen konnte, dem man sich nicht entziehen durfte, wollte man nicht umgestoßen, zu Boden geworfen und niedergetrampelt werden. Von hinten schob die Masse derart heftig, dass sich die Beine von alleine bewegten und man schließlich durch die Tür in das Innere der U-Bahn gepresst wurde.
„Wie im Viehtransport!“, schimpfte Paul.
„Und du auch noch hier!“, meinte ein Mann und sah Paul böse an. „Niemand hat auf dich gewartet.“
„Wenn`s nach mir geht, bin ich auch die längste Zeit hier gewesen!“, konterte Paul und grinste den Mann frech an.
Der wandte sich verärgert ab.
Einige Tage waren seit Olivias Casting vergangen und Paul dachte schon nicht mehr an das, was sie ihm alles begeistert erzählt hatte. Er hatte ganz andere Dinge im Kopf.
Paul sah mit einem Blick, dass kein Sitzplatz mehr frei war, ergriff die Haltestange mit der einen Hand und blickte prüfend auf den Blumenstrauß, den er in der anderen hielt. Er atmete auf. Er hatte den Strauß roter Rosen in den Katakomben der U-Bahn über seinem Kopf gehalten und es war ihm gelungen, ihn unversehrt hier hereinzubringen. Er betrachtete ihn genau, erkannte, dass er völlig heil geblieben war, ja prächtig aussah. Da lächelte er glücklich.
„Verliebt?“, fragte eine ältere Frau, die einen Sitzplatz ergattert hatte mit einem Lächeln, das verriet, dass sie sich daran erinnerte, was Paul fühlen musste.
„Total!“, bestätigte er lachend.
„Glücklich?“
Er stutzte. „Ich denke schon!“, schob er schnell nach.
„Gut!“
Ja, glücklich, er war glücklich. Er hätte jauchzen können vor Freude und vor Glück. Denn er war auf dem Weg zu Olivia, mit der er nun schon über ein Jahr zusammen war. Und er war sich in den letzten Wochen darüber klar geworden, dass er sie liebte, alles an ihr liebte, ihre Schönheit, denn sie war wunderschön, ihre Zierlichkeit und Zerbrechlichkeit, was nicht nur ihren Körper betraf, sondern auch ihr Wesen, ihren Stil, ihre Lebensfreude, mit der sie ihn immer wieder aus seiner Übervorsichtigkeit ins Leben geholt hatte und natürlich ihre Zärtlichkeit, diese Zärtlichkeit ihrer Haut, aber auch ihrer Gedanken.
„Meine Traumfrau!“, seufzte er.
Und so war es ihm immer klarer, aber gerade in den letzten Wochen ihres Zusammenseins zur Gewissheit geworden, dass er mit ihr zusammen sein wollte, immerzu, jede Sekunde des Tages und so unrealistisch und lächerlich es ihm auch erschien angesichts eigener Erfahrungen und derer anderer, sein ganzes Leben zusammenbleiben wollte, ja, sein ganzes Leben wollte er mit ihr verbringen, jede Sekunde dieses kurzen und einsamen Lebens wollte er mit ihr verbringen.
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