„Da musst du mitmachen!“, hatten ihre Freunde gedrängt, obwohl sie nicht hätte gedrängt werden müssen.
Sie hatte sich angemeldet, war zu einer Vorauswahl eingeladen und gemustert worden. „Schöne, blonde, lange Haare, schöne Augen, schönes Gesicht, endlos lange Beine und eine tolle Ausstrahlung!“, hatten die Veranstalter gemeint und ihr dann das Ticket zur Teilnahme zusammen mit einem Infoflyer in die Hand gedrückt.
Wochenlang fieberte sie dem Termin entgegen, erledigte ein tägliches Beauty-Programm, übte eine Choreografie ein und hungerte, um noch ein bisschen abzunehmen, was ihr aber nicht gelang.
„Muss das denn wirklich sein?“, hatte Paul genervt gefragt.
„Freust du dich denn gar nicht für mich?“
„Doch, aber ist das alles nicht ein bisschen übertrieben?“
„Paul, ich brauche jetzt deine bedingungslose Unterstützung, verstehst du das denn nicht. Wenn du mich wirklich liebst, musst du mich unterstützen. Du musst mir Mut machen und mir dabei helfen, meine Unsicherheit loszuwerden. Ich brauche dich jetzt, verstehst du denn nicht?“
„Also gut, ich unterstütze dich, ich unterstütze dich!“, seufzte er und sah sich einen Baumarktkatalog mit den neuesten Geräten an. Er versprach ihr zähneknirschend seine Hilfe.
Und so saß er geduldig neben ihr, wenn sie sich eine Beautypackung aufs Gesicht legte, unterhielt sich mit ihr bei entspannender Musik und blätterte leise in seinen Katalogen. Er joggte mit ihr, damit sie abnahm und aß danach allein in der Küche, während sie im Wohnzimmer hungerte. Sie zeigte ihm ihre Choreografie und er beriet sie dabei, so gut das jemand konnte, der keine Ahnung davon hatte.
„Danke, Paul!“, meinte sie und das war sein Lohn.
Dann war der Tag der Entscheidung da. „Jetzt ist es soweit!“, stammelte sie mit zitternder Stimme.
„Versprich dir nicht zu viel!“, hatte er gemeint und gehofft, dass sie nicht gewinnen würde.
„Was soll das heißen, findest du, dass ich nicht hübsch bin?“
„Nein, nein, nein! Ich möchte nur nicht, dass du nicht zu enttäuschst bist, wenn du nicht gewinnst“, umschiffte er gerade noch das Fettnäpfchen. „Ich meine nur, dass vielleicht noch andere schöne Mädchen da sind!“
Sie warf ihm einen bösen Blick zu und er schüttelte nur den Kopf über seine Dummheit.
Aber dann war es doch so, wie er vermutet hatte. Als Olivia die Umkleideräume der Diskothek betrat, war sie baff, wie viele hübsche Mädchen vor den Schminkspiegeln saßen und sich herrichteten. Eine Frau fragte sie nach ihrem Namen, hakte sie in einer Liste ab, reichte ihr eine Nummer, die sie an ihrem Bikini anheften sollte und zeigte ihr den Spiegel, wo sie sich herrichten sollte. Sie musste einen Augenblick warten, bis das Mädchen fertig war, das an ihrem Spiegel saß und beobachtete die anderen Mädchen, von denen einige nochmals ihre Choreografie übten.
„Mein Gott, Paul hatte Recht. Hier wimmelt es ja von schönen Mädchen!“, dachte sie. Sie war es gewohnt, dass sie in ihrem Freundeskreis immer nur als die absolut Schönste bezeichnet worden war. Und nun erkannte sie, dass sie hier nur eine von vielen war. Hier waren alle schön, umwerfend schön.
Dann setzte sie sich und begann mit zitternden Händen, sich zu schminken.
„Willst du dich herrichten oder hier herumgaffen?“, meinte das Mädchen, das schon als nächste auf ihren Spiegel wartete, lakonisch.
Da wurde ihr bewusst, dass sie mit ihrer Vorbereitung nicht weiterkam, weil sie alles um sie herum faszinierte, überraschte und erschreckte.
„Die hält hier schon die ganze Zeit den Betrieb auf!“, zischte ein anderes Mädchen.
„Kommt wohl vom Land! Da nimmt man sich Zeit!“
„Grade so sieht sie aus!“, bestätigte das Mädchen, das neben ihr am Spiegel saß und die sie, nach Olivias Meinung, noch gar nicht angesehen haben konnte.
Olivia machte sich schnell zurecht. Dann musste sie mit den anderen auf die Bühne: Vorstellung, Choreografie, Interview und alles unter tosendem Applaus und Jubel der Fans. Und dann die Verkündung der Siegerin, die Nennung ihres Namens. Sie konnte es nicht fassen, begriff nicht, was mit ihr geschehen war. Dann das Blitzlichtgewitter der Fotografen, sie zuckte mit den Augen, zwang sich zu einem Lächeln, sah ihre Freunde, sie lachten und winkten und sie winkte zurück. Sie suchte Paul und entdeckte ihn schließlich. Er stand nachdenklich vor der Bühne.
Der Besitzer der Diskothek kam auf sie zu und überreichte ihr und den anderen Gewinnerinnen ihre Preise. Natürlich wieder unter Jubel und Applaus der Fans. Dann nahm er Olivia in den Arm und küsste sie auf die Wange. „Du hast verdient gewonnen!“, meinte er anerkennend. „Und ich glaube, du wirst deinen Weg als Model machen. Ich mache das nicht zum ersten Mal und kenne mich aus. Du wirkst einfach extrem frisch! Such dir eine gute Agentur und du wirst Erfolg haben, glaub mir!“
„Das werde ich!“, versicherte sie und dachte an den Model-Scout.
Sie konnte sich aber nicht wirklich freuen. Sie sah nur Paul, der nachdenklich und mit ernstem Gesicht an der Bühne stand.
3
„Was ist denn jetzt schon wieder los? Wo rennst du denn jetzt schon wieder hin?“, rief Paul überrascht aus, richtete sich in Olivias Bett auf und sah ihr nach wie sie aus dem Schlafzimmer in ihr Wohnzimmer stürzte.
„Eine Mail ist gekommen, hast du das nicht gehört?“
Paul verzog die Miene und schüttelte verständnislos den Kopf.
Sie hatten einen schönen Sonntagnachmittag verbracht, waren in der Sonne an der Themse entlangspaziert, hatten in einem kleinen Café gesessen und sich unterhalten und Pläne geschmiedet. Als es Abend geworden war, waren sie in Olivias Wohnung gegangen und hatten auf dem Sofa bei einer Tasse Tee geschmust. Dann hatte Paul sie auf die Arme genommen, hatte sie in ihr Schlafzimmer getragen und begonnen, sie auszuziehen. Plötzlich war sie dann aufgesprungen und an ihren Laptop gelaufen. Paul stand aus dem Bett auf und folgte ihr ins Wohnzimmer.
„Das ist ja ein Kompliment für mich: Die Frauen fliehen vor mir!“
Olivia winkte ab. „Ach rede keinen Unsinn! Du bist der Beste von allen, o.k.?“
Paul runzelte die Stirn. „Warum rennst du dann davon, wenn ich so unwiderstehlich bin?“
Sie starrte eine Weile gebannt und wie elektrisiert auf den Monitor ihres Laptops, schwieg, ignorierte ihn völlig, dann plötzlich sackte sie in sich zusammen, legte ihren Kopf in die Arme und schluchzte, ohne zu weinen. „Oh nein, das kann doch nicht wahr sein!“
Paul trat schnell zu ihr hin und nahm sie besorgt in den Arm. „Was ist denn, Liebstes?“
Sie schüttelte den Kopf und zeigte sprachlos auf den Laptop, in dem ihr E-Mail-Center aufgeschlagen war. „Eine Weinwerbung!“
Er blickte abwechselnd auf ihr E-Mail-Center und dann auf sie und verstand immer noch nichts. „Nun gut! Du trinkst keinen Wein. Aber so schlimm ist das doch auch nicht!“
Sie sah ihn kopfschüttelnd an. „Begreifst du denn gar nichts, du Idiot! Ich warte auf eine Mail von der Modelagentur, die mir sagt, ob und wann ich zu einem Casting oder zur Vorstellung kommen soll!“
Sie bemerkte, wie Paul bei dem Wort „Idiot“ zusammengezuckt war und besann sich. „Entschuldige, ich wollte dich nicht beleidigen!“ Sie streichelte ihm übers Haar. „Aber du begreifst gar nicht, was gerade in mir vorgeht!“
Er hatte ihr schon verziehen und sah sie stirnrunzelnd an.
Sie sah ihn an, erkannte, dass er tatsächlich nichts begriff oder ihre Sehnsüchte noch nicht realisiert hatte, sie vielleicht nicht ernst genommen hatte und sprudelte schließlich los. „Ich warte auf die Einladung von der Agentur des Modelscouts, der mich angesprochen hat, du erinnerst dich, ich warte darauf, dass sie mich zu einer Vorstellung einladen, verstehst du, egal wann, völlig egal, nur eingeladen werden, eingeladen werden zur Vorstellung, denn wenn das geschieht, glaube mir, wenn das geschieht, dann werde ich es schaffen, diese Gelegenheit lasse ich mir nicht entgehen, eine solche Gelegenheit werde ich mir nicht entgehen lassen, das schwöre ich bei Gott!“
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