Zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, vielleicht in einem anderen Leben, hätten sie zusammen glücklich werden können. Sind es vielleicht gewesen. Tief drinnen, in einem Teil von ihm, den er nicht zu ergründen wagte, wusste er, dass es nicht das erste Mal war, dass sich ihre Seelen begegneten. Er brauchte sie, um ganz zu sein.
Van wollte sie glücklich machen. Doch da das in diesem Leben nicht in seiner Macht lag, würde er alles daran setzen, sie glücklich zu sehen. Eine uralte Stimme in ihm rief nach ihr und warnte ihn gleichzeitig. Sie würde sein Verderben sein. Sie würde ihm einen Wunsch erfüllen, den er nicht mehr hegte. Aber es war okay. Durch ihre Hand zu sterben, war ein schöner Tod.
Er hörte die Wellen rauschen, spürte ihr Schaukeln und ein Gedanke, gut verdrängt, bemächtigte sich seines Geistes: Akiko.
Sein Herz krampfte sich zusammen. Sie hatte alles für ihn getan. Hatte ihn gefunden und aus den Klauen des Wahnsinns befreit. Sie hatte ihn öfter gepflegt, als er zählen konnte. Und doch hatte er sie im Stich gelassen. War geflohen und hatte sie ihrem Schicksal überlassen. Wenn er Lina nicht im Blick hatte, schrie jede Faser seines Seins danach, Akiko zu suchen und in Sicherheit zu bringen. Van konzentrierte sich auf Lina. Sie sah so zerbrechlich im Schlaf aus. Dass auf ihren Schultern eine Last ruhte, die das Schicksal der Menschheit bestimmen würde, war kaum zu glauben.
Van wusste, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, Lina in Sicherheit zu bringen. Dass ihn Akiko darum gebeten hatte und er würde es niemals bereuen. Doch sein Herz blutete für Akiko. So mächtig sie auch war, war sie doch nicht weniger zerbrechlich als Lina. Beides Frauen, deren Handeln das Schicksal der Menschheit lenken würde. Doch ihm waren die Menschen egal. Nur zwei von den 7,2 Milliarden waren ihm wichtig. Und einen davon hatte er im Stich gelassen.
Flughafen Osaka-Itami November 2010
Akiko saß im Flieger. Die Bilder strömten auf sie ein, ihr Kopf schmerzte. Mögliche Zukunftsversionen wechselten sich im Sekundentakt ab. Es kostete sie jeden Tropfen Selbstbeherrschung, um ihre Augen nicht zuzukneifen, ihre Hände nicht über die Ohren zu pressen, sich nicht in einem Ball zusammenzurollen und panisch hin und her zu schaukeln. Sie war zu lange hinter ihrer behüteten Mauer der Stille gewesen.
Die Welt des Schmerzes war in Vergessenheit gerückt und brach jetzt über sie herein, ertränkte ihren Geist und war doch nur ein Vorgeschmack auf das, was kommen würde. Akiko hatte Schlimmeres durchlebt. Müsste abgehärtet sein, aber die Jahre des Komfort hatten sie weich gemacht. In diesem Zustand würde es nicht lange dauern, bis der Orden sie erneut gebrochen hatte und dieses Mal mit ihr die Welt.
Die Folter hatte bereits begonnen und sie fuhren die großen Geschütze auf. Sie ohne Schutzzauber durch den Flughafen zu zerren und in einen Doppeldecker zu setzen, war unmenschlich. Ein einzelner Gedanke reichte, um hunderte neue mögliche Zukunftsversionen zu erschaffen. Die meisten waren sehr einfach gestrickt und zogen eine Kette von Entscheidungen hinter sich. Soll ich sie heiraten? - Eine Frage mit zwei möglichen Antworten. Ja. - Nein . Ausgehend von dieser Entscheidung entwickelte sich ein Geäst der Möglichkeiten, verschlungen und nicht nachvollziehbar. Es gab Linien, die wahrscheinlicher waren. Ihre Wurzeln, genährt aus Erfahrungen und Verhaltensmustern. Die feinen Nebenäderchen fühlten sich an wie Erinnerung an einen Traum, wenn man aufwachte und nur noch wusste, dass man geträumt hatte. Sie verschwanden mit einem Augenzwinkern. Die dicken, pulsierenden Wurzelstränge der gesamten Menschheit bildeten das Zukunftsnetz, geknüpft an Verhaltensmuster und Zwangsneurosen.
Jeden Menschen für sich zu betrachten, ihn zu studieren, seine Möglichkeiten zu erkennen und ihn in die richtigen Bahnen zu lenken, das war die Aufgabe eines Mediums. Dafür hatten die Götter den Medien ihre Gabe geschenkt. Auf dass sie die richtigen Menschen erkennen und führen. Denn ohne Führung versank die Menschheit im Chaos. Wenige sahen die Zusammenhänge und konnten die Verknüpfungen erkennen.
Akiko war ein solches Medium, von den Göttern auserkoren, in ihrem Namen zu lenken. Stark genug, um ein ganzes Land zu führen. Dieses Wunder, einzigartig wie es war, saß mit zitternden Händen da. Sie wusste niemand würde kommen, um sie zu retten. In diesem Gedanken spürte sie die Dunkelheit, an der sie zerbrechen würde und mit ihr die Welt.
Er würde nicht kommen. Van hatte sich vor langer Zeit entschieden. Bereits in einem anderen Leben. Akiko legte die Arme um sich, trieb ihre Fingernägel durch den Stoff ihres Pullovers. Grob gestrickt, drangen sie vor bis zur Haut. Sie nahm den Schmerz nur dumpf war und doch versuchte sie, sich an ihm festzuhalten. Er war schlüpfrig, wurde weggespült von abertausenden Bildern, die doch diesen einen Gedanken nicht vertreiben konnten. Der pulsierende Schmerz in ihrem Kopf schwappten über sie herein und mit jeder neuen Welle wurde der Gedanke stärker: „ Er wird nicht kommen “ – keine Wahrscheinlichkeitsvariable – eine Tatsache.
Akiko grub ihre Nägel tiefer in ihr Fleisch, konzentrierte sich auf das Gefühl von warmen Blut, das aus ihrem Körper lief und den grauen Stoff ihres Pullis rot färbte.
Sie durfte es dem Orden nicht zu einfach machen. Akiko würde fallen. Alles, was sie wusste, preisgeben. Doch sie musste Van und Lina einen Vorsprung geben, ihren Zielort so lange wie möglich für sich behalten. Warum hatte Van sich gerade bei ihrem letzten Kontakt entscheiden müssen? Warum hatte er nicht damit gewartet, bis Akiko zu weit von ihm entfernt war, um seine Schicksalslinien lesen zu können? Wäre seine Entscheidung eine Minute später gefallen, wäre Akiko nichts wert in den Händen des Großmeisters. So musste sie sich zusammenreißen und das Brechen ihrer Seele so lange wie möglich hinausschieben, um der Menschheit eine Chance zu geben.
Akiko verstaute ihr Wissen so tief wie möglich in ihrem Unterbewusstsein, bedeckte es mit dem größten Stein, den sie in sich fand: ihrer Liebe zu Van. Sie würde ihr Kraft geben, selbst wenn das Schicksal der Menschheit ihr egal geworden wäre.
Versunken in ihrer Welt, bemerkte Akiko nicht, wie das Flugzeug sich in Bewegung setzte. Der Boden unter den Füßen der Passagiere erzitterte, als die Motoren starteten und der große Vogel sich in Startposition begab.
Heinz blätterte in der Bild. Scannte mit geschulten Augen die Klatschzeitung auf Hinweise. Sie waren klein und fielen meist nicht auf. Es war seine erste Zeitung seit Langem und zwei weitere warteten in der Sitztasche vor ihm geklemmt, ragten heraus bis zum herunterklappbaren Esstisch. Ein Blick in die Zeitungen beruhigte seine Nerven. Er hatte noch genau achteinhalb Stunden Zeit, um in dem rauen Grauschwarz abzutauchen.
Früher waren es die Zeit und das Handelsblatt, die er gelesen hatte, mit Fokus auf Wirtschaft, Recht und Internationales. Heute war es die Bild und die Klatschspalte, die seine Augen für Stunden gefangen hielten. Vielleicht würde er auch heute auf einen neuen Hinweis stoßen. Er hatte schon so einige dieser dreckigen Monster aufgrund eines kleinen Absatzes gefunden. Ein Wort sprang ihm ins Auge: Yeti. Ein Bericht über einen verunglückten Deutschen im Himalaya. Unbewusst kratzte er sich über die Innenseite seiner Handfläche. Das Jucken war nur leicht, kaum wahrnehmbar. Wäre er aufmerksamer gewesen und nicht so vertieft in seiner Suche nach der nächsten Beute, hätte er gewusst, wo er als nächstes suchen musste.
Doch er war in Gedanken schon bei seiner nächsten Hetzjagd. Er hoffte inständig, dass es diesmal ein Vampir sein würde. Er liebte das Gefühl, wenn das tote, kalte Fleisch unter dem spitzen Holz nachgab, sich Millimeter für Millimeter dem Herz näherte und die Rote Fontäne herausschoss. In dieser Hinsicht war er altmodisch. Massenvernichtungen durch Verbrennung waren einfacher und effizienter. Aber nicht so befriedigend. Heinz fuhr sich bei dem Gedanken mit dem Daumen über die Unterlippe und suchte weiter nach Hinweisen.
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