Über Wagner-Inszenierungen kann man wahrscheinlich regalweise Dissertationen schreiben. Ich muss zugeben, dass ich eher selten in andere Opern gehe, deswegen weiß ich nicht, ob man sich da auch so irrwitzig Mühe gibt, dauernd etwas Neues in die Handlung zu interpretieren, um eben dieses Neue bebildern zu können.
Manchmal geht das fürchterlich daneben – ich erinnere mich an eine Berliner Aufführung des „Holländers“, wo wir zum Schluss Nutten und Koks auf dem Fußboden eines Trading Floors hatten –, manchmal klinke ich mich irgendwann aus, weil ich keine Ahnung mehr habe, was ich gerade sehe – ich denke vor allem an Schlingensiefs „Parsifal“ in Bayreuth –, aber manchmal erwischt mich eine Aufführung so sehr, dass ich ein paar Minuten brauche, bis ich klatschen kann. Wieder der „Parsifal“ in Bayreuth, dieses Mal von Stefan Herheim, 2011. Ich habe noch nie vorher und leider auch seitdem nie wieder eine Aufführung gesehen, die mich so atemlos, so fassungslos und so verzaubert zurückgelassen hat. Bei der Ouvertüre jeder Oper verdrücke ich still ein paar Tränen, weil es mich jedes Mal anrührt, in einem Opernhaus zu sitzen und diese einzigartige Kunst genießen zu dürfen. Bei diesem „Parsifal“ weinte ich auch zum Schluss. Und diese Aufführung hallt immer noch in mir nach.
In meinen 20ern wurde ich von einem Freund gefragt, was mir an Wagner so gefalle. Ich wedelte begeistert mit den Armen, sprach von großen Weltentwürfen in Verbindung mit kleinen, intimen Szenen voller Menschlichkeit, schwärmte von der unendlichen Melodie und wie Wagner die Opernwelt revolutioniert habe, kurz, gab das totale Fangirl – und das anscheinend so überzeugend, dass der junge Mann, der mich gefragt hatte, mich gerne einmal begleiten wollen würde, wenn das alles so toll sei. Ich freute mich über eine Begleitung – Wagner war in meinem Freundeskreis eher weniger en vogue, weswegen ich meist alleine oder mit meinem Mütterchen in der Oper saß – und sagte zu, ihm Bescheid zu geben, wenn ich das nächste Mal zu Herrn Wagner wollte.
Das war bereits wenige Wochen später, als die Niedersächsische Staatsoper in Hannover den kompletten „Ring“ aufführte. Ich erwähnte, dass „Das Rheingold“ nicht unbedingt ein guter Reinkommer für einen Novizen sei, vor allem, wenn man weder ein Werk Wagners noch jemals irgendeine andere Oper gesehen hatte. Der junge Mann ließ sich aber nicht davon abbringen, mich begleiten zu wollen; ich kaufte also zwei Karten und beschwor ihn, sich wenigstens vorher den Inhalt durchzulesen. Damals gab es noch keine Übertitel und selbst heute, wo so ziemlich jedes Opernhaus sie hat, behaupte ich, dass sie einen nicht viel weiterbringen, wenn man überhaupt nicht weiß, worum es geht. Aber auch hier hatte der junge Mann eine eigene Meinung: Er wolle alles, O-Ton, unvoreingenommen auf sich wirken lassen. Ich wedelte wieder mit den Armen, dieses Mal weniger begeistert, sondern verzweifelt, denn ich wollte so gern, dass es dem Herrn gefiel, was bei „Rheingold“ schon schwierig genug ist und wenn man dann nicht weiß, was passiert, noch schwieriger. Mein letzter Versuch, ihn vom Besuch abzubringen, war der Hinweis, dass die Oper keine Pause hätte, woraufhin er leichtsinnig meinte, ach, zweieinhalb Stunden, das ginge ja.
Man ahnt, wie der Abend verlaufen ist. Der Herr begann nach gefühlt 20 Minuten unbehaglich im Sitz hin- und herzurutschen, wagte es aber immerhin nicht, mich zwischendurch nach Plotpoints auszufragen (was ich mir auch böse verbeten hätte), nach ungefähr 40 Minuten war er gebrochen und saß nur noch ergeben neben mir und wartete darauf, dass alles da vorne zu Ende ging. Nach der Vorstellung brachte er den Satz, der ihn mir sehr unsympathisch machte: „Ich fühle mich wie vergewaltigt“, und wir haben heute keinen Kontakt mehr. Ich glaube auch nicht, dass er Wagner noch eine zweite Chance gegeben hat. Ein weiterer Versuch mit einem anderen Freund verlief ähnlich – der Herr war zwar nicht ganz so erschlagen, wollte aber nach der „Walküre“ auch nichts mehr mit Wagner zu tun haben. (Aber immerhin mit mir, wir sind heute noch befreundet.)
Ganz anders erging es mir vor wenigen Jahren mit einer Freundin, die ich immerhin davon überzeugen konnte, es vielleicht erst einmal mit ein bisschen konzertantem Wagner zu versuchen. Wir hörten in der Hamburger Laeizhalle zunächst Strawinsky und dann das Finale der „Götterdämmerung“ mit der großen Arie der Brünnhilde. Und wo ich ängstlich auf eine herumrutschende und ungeduldige Freundin vorbereitet war, bekam ich: eine Freundin, die sich langsam vorbeugte, um ja nichts zu verpassen und die beim Schlussapplaus diesen ganz besonderen Gesichtsausdruck hatte, dieses „So was habe ich noch nie gehört und ich frage mich gerade, warum zum Teufel nicht?“ Sie war zunächst stiller als sonst, hatte leuchtende Augen, musste sich erst einmal sortieren, aber dann schwappte sie über mit Fragen zur „Götterdämmerung“, zur Sängerin, die wir gerade gesehen hatten (Deborah Voigt) und wann ich bitte Zeit hätte, mit ihr mal eine ganze Oper zu sehen. Das taten wir wenige Wochen später mit der kompletten „Götterdämmerung“ in Hamburg, wo nicht mal die olle Sozialtristesse-Inszenierung uns den Abend verderben konnte, und seitdem ist sie meine treue Begleiterin.
Mein Fahrrad heißt Grane. Jedenfalls das, das in München steht. Ich wohne zurzeit sowohl in der bayerischen Landeshauptstadt als auch in Hamburg, wo ich ein weiteres Fahrrad besitze, das noch keinen Namen hat. Ich hätte allerdings eben jenes Grane taufen sollen, denn das Fahrradfahren in beiden Städten fühlt sich sehr unterschiedlich an. In München fahren alle brav, wie sie sollen, in Hamburg fahren alle, wie sie gerade Lust haben. Weswegen ich in München deutlich entspannter unterwegs bin, weil ich nicht damit rechnen muss, Geisterfahrer in meiner Spur zu haben oder Fußgänger oder irgendwen anders, der das Konzept „Radweg“ nicht verstanden hat. Ich höre beim Radeln keine Musik, aber in München habe ich meist das freundlich-gemütliche „Sommer in der Stadt“ von der Spider Murphy Gang im Kopf, wenn ich locker-flauschig dahinradele, ohne mir über irgend-etwas Sorgen zu machen.
In Hamburg läuft stattdessen der Walkürenritt.
Die Autorin:
Anke Gröner, 45, ist freie Autorin, mehrfach ausgezeichnete Werbetexterin und lebt in Hamburg. Wenn sie nicht gerade über die Lust am Genuss schreibt („Nudeldicke Deern“, rororo, 240 Seiten, 8,99 Euro), bloggt (www.ankegroener.de) oder für Autos Reklame macht, studiert sie begeistert Kunstgeschichte und Geschichte in München.
WAGNERIANER-FORSCHUNG
Eine Welt, die sich um Wagner dreht: Nur 36 Prozent des Wagner-Publikums sehen sich selbst als Wagnerianer. Alle anderen verwahren sich dagegen – weil ihnen Wagnerianer als versnobt und wahnsinnig gelten.
Foto: Robert Freiberger
WAGNERIANER-FORSCHUNG
Sie reisen nicht, sie pilgern
Das Festspielhaus, die Weihestätte. Wagner, der Meister. Solche Stereotype tauchen häufig auf, wenn es um die Anhänger von Wagners Werken – die sogenannten Wagnerianer – geht. Aber was ist eigentlich ein Wagnerianer? Eine Studie geht dieser Frage jetzt nach – und klärt dabei, warum die meisten Wagnerianer sich selbst nie so nennen würden
Von Elfi Vomberg
Manchmal hat Michael Ashton Sorge, dass er zu fanatisch wird. „Ich bin eigentlich schon mehr als ein Wagnerianer – ich würde mich eher als Wagner-Besessener bezeichnen“, erklärt er mit verschmitztem Lächeln. Und schon ist der Neuseeländer wieder in Gedanken versunken – weit weg, 18 300 Kilometer entfernt in seinem geliebten Deutschland. Im Hintergrund hört man die Rheintöchter säuseln. „Nach diesen 132 Takten am Anfang vom „Rheingold“ war es um mich geschehen“, erinnert sich Ashton an seinen ersten Opernabend in Deutschland vor einigen Jahren.
Читать дальше