Rust rannte mehr schlecht als recht im Laufschritt. Der Mast war fast über die volle Höhe mit Kletterstufen ausgerüstet, sogar Bügel als Rückenschutz für den sicheren Aufstieg hatte man angebracht. Nicht für eine Besteigung durch Rust! Enttäuscht fand er den Zugang am Fuß versperrt durch ein mehr als mannshohes Gitter, mit solidem Schloss gesichert und einem Schild mit aufgedruckter Aufschrift, vermutlich ein Warnhinweis in der ihm nicht lesbaren Landessprache. Ein sirrendes Geräusch war jetzt von der Meeresseite her vernehmbar. Lars entfernte sich noch weiter in unermüdetem Galopp. Der Abstand zwischen beiden mochte schon dem Viertel der Distanz bis zum Hotel in Noh entsprechen. Lars hatte das Fernrohr vom Hals gestreift, es einige Schritte lang in seiner rechten Hand getragen, dann, als vermeidbare Behinderung erkannt, es hinter einen Busch geworfen.
Rust erreichte die Palmengruppe am Fuß der kleinen Böschung zum Straßendamm. Hastig löste er seine Strandsandalen und stieg langsam am Stamm empor. Die Stummel der gestutzten Wedel gaben seinen Füßen Halt. Auf der Suche nach festem Stand umschloß er den staubigen Stamm mit dem Oberkörper und ausgestreckten Armen. Die Aststummel erwiesen sich als hart und ausgetrocknet. Er spürte hartes Kratzen an seiner unbedeckten Haut. Sicher würden sich Schürfwunden zeigen, später, nach seinem Wiederabstieg vom Zufluchtsort. Das scheinbar Lächerliche der Situation trat in sein Bewußtsein. Er sah sich selbst wie auf einen Slapstick-Film gebannt. Einige energisch aufstemmende Bewegungen der Beine, neuerliches Umgreifen auf erhöhtem Stand brachten ihn unter die Palmenkrone. Wo hingen die Kokosnüsse? Wenn er schon diesen Ausflug unternahm, wollte er mindestens einen kleinen Erfolg berichten können am Abend an der Bar nach überstandenem Abenteuer.
Er hatte, aus Furcht oder um Panik abzuwehren?, den Ausblick zum Meer hin zuletzt gemieden. Der Lärm stürzenden Wassers zwang seinen Blick widerwillig zur Seite der drohenden Gefahr. Der vordere Rand des dunklen Wasserstreifens hatte den Strand erreicht. Das Wasser stieg jetzt an , viel schneller als zuvor beim ersten Anlaufen des Meeres. Der Blick hatte genügt, ihn zu überzeugen: der Wasserberg, noch immer recht weit draußen, überspülte mit Leichtigkeit den Straßendamm.Vorsichtig trat er mit seinem linken Fuß ein Stück weit um den Stamm herum. Der neue Standort erlaubte Rust, dem Meer den Rücken zuzuwenden. Längst waren Shorts und Strandhemd aufgerissen. Blutige Striemen zogen sich über die Unterarme, Beine und Bauch. Das Kinn hielt er fest gegen rissige Blattanschnitte angeklammert. Die Vorderseite des Körpers würde den Eindruck aufdrängen, man habe ihn grausam ausgepeitscht. Rust achtete nicht auf Wunden. Schmerzen erreichten jetzt keine Geltung im Bewußtsein; alle Aufmerksamkeit galt der nahen Welle. Sein Blick richtete sich schräg nach unten. Zwischen dem Stamm der Palme und der Beuge des linken Armes folgte der Blick dem Anstieg des Meeresspiegels. Er vollzog sich schneller als beim ersten Mal. Ruhig bedeckte sich der Strand mit Wasser. Die Flut erreichte den breiten Sandstreifen vor dem Damm, vor wenigen Minuten noch Standort des Lieferautos von Yvonne.
Was Rust nur ansatzweise sah: hinter seinem Rücken nahte ein flach geneigter Wasserberg. Erst die unmittelbare Nähe hätte die wahre Höhe und furchtbare Gewalt erahnen lassen. Die Annäherung dieses massiven Berges vollzog sich dennoch mit federnder Eleganz. Ein ungefährdeter Beobachter würde von Schönheit sprechen, solange kein massives Hindernis dem Wasserberg den Weg verschloß. Der Damm war überspült. Hinter seiner abfallenden Flanke bildete sich eine hohe Brandungswelle aus. Schäumend wälzte sich eine Woge über das ausgedörrte flache Hinterland. Dieser Teil des Geländes zwischen Noh und Lam war leer. Das struppiges Unterholz und die wenigen Palmen beiderseits des Bachlaufs boten der Flutwelle wenig Widerstand.
Auch Rusts Zuflucht wurde von der Dammseite her schäumend angeströmt. Elastisch beugte sich der Stamm dem Druck des nassen Elements. An Stürme vom Meer her sind die schlanken Ufergewächse angepasst. Palmen ertragen ohne Schaden die Anströmung im regulären Sturm, gleich ob mit oder ohne Rust unter ihrem Wipfel auf der Suche nach Schutz Die Bäume duckten sich federnd zur Seite und hielten stand. Dieser Angriff hier war von anderer Art. Die Evolution hat eine Palme mit der Kraft zum Widerstand gegen direkten Meeresanprall nicht ausgerüstet.
Sobald die Schwelle des Straßendammes überwunden war, trafen die Wirbel der aufgeschreckten See mit gewalttätiger Turbulenz auf das Erdreich über dem Wurzelwerk. Sie lösten den feste Boden in schlammige Schwebeteile auf. Behauptete der schlanke Stamm seinen Stand?, fragte sich Rust in einer Sachlichkeit, die ihn selbst staunen ließ. Er vertraute darauf. Die Wurzeln reichten hier bei der Suche nach süßem Wasser tief genug in den Tropensand. Die Sicherheit seiner Zuflucht unterlag keinem Zweifel. Mehr Aufmerksamkeit verdiente der Meeresanstieg. Das anströmende Wasser bedeckte seine Beine bis zum Knie Nach jedem vernünftigen Ermessen würde auch eine ungewöhnliche Brandungswelle keine Sintflut sein. An der Vorderseite der Palmenstämme hatten sich in der ruhig ansteigenden Meeresoberfläche kleine Erhebungen aufgeworfen. Sie erinnerten ihn an Bugwellen vor einem Ruderkahn. Aufspritzend hatten sie ihn bis zum Bauch durchnässt.
Der Wasseranstieg hatte sich verlangsamt und kam zum Stillstand. Während der wenigen Sekunden, die dafür blieben, zog er eine vorläufige Bilanz.Nicht lange mehr, dann mußte sich die Flut in Gegenrichtung kehren. Der Rückfluß des Wassers würde in dieser unbequemen Lage abzuwarten sein. Einige Zeit, ähnlich der Frist für die Brandwache nach einem Feuer, würde er ausharren, dann hätten sich auch Ausläufer der Welle verlaufen, dann wäre nach menschlichem Ermessen die Gefahr vorbei. Er suchte längs der überfluteten Linie des Straßendammes nach seinem Leidensgenossen Lars. Unwahrscheinlich, daß der Schwede rechtzeitig Zuflucht gefunden hatte. Vermutlich trieb er im flachen Vorland im kleinen Binnenmeer, das dort entstanden – und noch in ständiger Erweiterung begriffen war..Rust sah kein Problem für den Schweden, sich in der flachen Schlammwüste zu behaupten. Aber auch der vom Sonnenbrand gezeichnete Mann aus dem Norden würde in eine unangenehme Situation geraten sein.
Mit Sicherheit hatten Yvonne und François mit dem Lieferauto auf der Uferstraße rechtzeitig höheres Terrain erreicht. Ihr Pavillon war spurlos verschwunden unter einer schwach bewegten, gelb eingefärbten Wasseroberfläche. Ausgeschlossen, daß Dach und Seitenwände ihrer leichten Verkaufsboutique dem Andruck der Strömung widerstanden hatten! Trümmer ließen sich von seinem Platz aus nicht erkennen. Rust neigte seinen Kopf ein Stück weit vom Stamm weg und spähte nach Lam und Noh hinüber. Noh verschwamm im Gegenlicht. Im Dunst des Morgens erschien Lam von seinem Standort aus durch das gewaltsame Ereignis nicht stark verändert. Die Wasserlinie war dort anscheinend bis in die Vorgärten der Hotelanlagen vorgerückt. Undeutlich nahm er aus Richtung des Dorfes andauerndes Autohupen wahr.
Nach einer trügerischen Ruhepause, die Rust fast schon entspannt genossen hatte, erreichte ihn der Wellenkamm. Aus dem Sockel des flach geneigten Höhenzugs aus Wasser hatte sich auch im mittleren Strandabschnitt zwischen Noh und Lam eine steile Schwelle aufgeworfen. Der Anstieg des Meeresgrundes vor seinem Übergang zum Strand prägte dem voran stürmenden grau-blaue Wasserberg das finale Unheil ein. Die Oberzone der Anströmung folgte nur widerwillig der Verzögerung am Fuß. Hier setzte Reibung zwischen fest und flüssig am Meeresboden der raschen Fortbewegung einer Hemmung aus.
Bewirkt durch schwacher Bindekräfte zwischen den Molekülen des nassen Elements teilten sich den mittleren und höheren Schichten die Verzögerung der bodennahen Wasserzone mit. Als gutmütiger Koloß hatte die flache Woge bisher große Entfernungen im Meer durchmessen. Die schwach hemmende Bremswirkung am Fuß hatte sich fast unmerklich langsam aufsummiert. Seit dem Eintritt der Welle aus dem offenen Meer an den Strand der flachen Bucht war sie schnell angewachsen. Die Riesenwoge hatte an ihrer Unterseite auf den stärker spürbaren Widerstand reagiert und wie aus dem Nichts entstanden einen wild vorwärts drängenden Gipfel aufgebaut.
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