Thomas flüchtete in Sarkasmus: „Ich kaufe immer den, der mit Hungerlöhnen gebaut wurde und Arbeitsplätze vernichtet.“
„Also erstens“, dozierte nun Krischa, „wir zahlen keine Hungerlöhne, sondern recht hohe Löhne für rumänische Verhältnisse. Zweitens vernichten wir nicht einfach Arbeitsplätze, sondern schaffen welche in Rumänien, und dort ist die Arbeitslosigkeit höher als hier. Und drittens leben wir wirtschaftlich gesehen nicht mehr in Deutschland, sondern in der EU, und da werden Arbeitsplätze da geschaffen, wo es sich lohnt. Oder glaubst du, wir könnten Kühlschränke im Osten verkaufen, die hier hergestellt werden?“
Thomas hätte viel auf diese neoliberale Argumentation erwidern können; aber er wollte sich und den anderen den Abend nicht mit einer langen Diskussion verderben. Außerdem war er sich nicht ganz sicher, ob er mit seinen Bedenken überhaupt Recht hatte. Andererseits war er zu eitel, um eine Niederlage einzugestehen.
„Und viertens“, ergänzte er deshalb Krischas Argumente, „geht mich das gar nichts an, weil ich Beamter bin und mein Gehalt so sicher kommt wie das Amen in der Kirche.
„Du sagst es“, triumphierte Krischa, „du linke Socke.“
„Immer locker bleiben!“, bat Charly.
Thomas hatte mit Krischa dieselbe Klasse besucht und mit ihm zusammen Abitur gemacht. Danach hatten sich ihre Wege vorübergehend getrennt: Krischa hatte in München BWL studiert, Thomas in Tübingen seine beiden Unterrichtsfächer. Die Studienplatzwahl war typisch für beide: Krischa wollte in die fesche Metropole, Thomas bevorzugte die kleine Stadt, die für Geisteswissenschaften stand.
Dass die beiden trotz ihrer gegensätzlichen Charaktere Freunde geblieben waren, lag daran, dass jeder den anderen zur Kompensation der eigenen Defizite brauchte. Obwohl Krischa in jeder Hinsicht erfolgreich war, fühlte er sich Thomas gegenüber minderbemittelt. Er war im Gegensatz zu Thomas ein mittelmäßiger Schüler gewesen und ein mittelmäßiger Student. Er hatte immer das Gefühl gehabt, dass Thomas Dinge durch den Kopf gingen, von denen er nichts verstand. Was es war, konnte er sich nicht vorstellen, um so fester war aber seine Überzeugung, dass ihm Wesentliches entging. Für ihn war Thomas ein Genie, und er sagte es ihm immer wieder, einerseits weil er davon überzeugt war, andererseits weil er ihn provozieren wollte. Er hoffte, auf diese Art vielleicht doch eines Tages eine Ahnung von dem zu bekommen, was ein Genie dachte, vielleicht wollte er aber auch nur sein Existenzrecht gegenüber einem Genie behaupten.
Thomas dagegen wäre nie in den Sinn gekommen, dass er über geheimes Wissen verfügte. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass andere Menschen die Dinge, die ihm durch den Kopf gingen, nicht auch in Betracht zogen. Wenn Thomas in der Schule Gedichte interpretierte, entdeckte er in ihnen Geheimnisse, an die sonst keiner dachte, auch die Lehrer nicht, die ihm dann vorsichtshalber eine Eins gaben, damit er gnädig mit ihnen verfuhr und sie nicht auf ihre Unzulänglichkeiten hinwies. Nach Krischas Ansicht konnte kein Mensch, der geradeaus dachte, auf solche Ideen kommen wie Thomas.
Thomas selbst bezeichnete sich als eine mehr oder weniger gescheiterte Existenz, weil er in den Staatsdienst geflüchtet sei, um dort ahnungslosen Kindern ein paar Banalitäten beizubringen. Auch an diesem Tag hatte er, bevor er sich mit seinen Freunden zum Essen im Dionysos traf, beim Korrigieren von Oberstufenaufsätzen einigen Frust erlebt. Nicht nur, dass viele seiner Schüler die Ironie im vorgelegten Text nicht erkannt hatten, sie beherrschten kurz vor dem Abitur noch nicht einmal die Zeichensetzung und trennten eine adverbiale Bestimmung, wenn sie mal aus mehr als zwei Wörtern bestand, durch Komma vom Satz ab und vergaßen es dafür am Ende des Nebensatzes. Mit solchen Lappalien müsse er sich also herumschlagen, sagte er gerne, während das Leben an ihm vorbeilaufe. In Wirklichkeit waren solche Aussagen wie überhaupt seine ganze Selbstdarstellung Fassade. In Wirklichkeit nämlich hatte er den Beruf des Lehrers ganz bewusst gewählt, weil er Kinder und Jugendliche liebte, ihren Optimismus, ihre Lebensfreude, ihre Unbekümmertheit, und es war ihm eine Freude, ihre Neugierde zu wecken, damit ihnen noch lange diese Lebendigkeit erhalten blieb, die er bei sich vermisste.
An Krischa bewunderte Thomas die Leichtigkeit, mit der dieser die entscheidenden Anforderungen des Lebens souverän meisterte. Dass Krischa das Dreifache verdiente, störte ihn dabei kaum. Geld interessierte Thomas nicht, solange es ausreichte. Eher schon beneidete er Krischa um seinen Schlag bei Frauen. Schon in der Schule war Krischa ein Mädchenschwarm gewesen, mit Recht, wie Thomas fand. Denn diesen Status verdankte Krischa weniger seinem Aussehen und dem Sportwagen, den ihm sein Vater, ein Zahnarzt, geschenkt hatte, obwohl diese Accessoires sicher auch eine Rolle spielten. Er verdankte ihn vor allem seinem Charme, seiner Unternehmungslust und seiner permanent guten Laune. Dabei hatte Krischa diese Situation keineswegs schamlos ausgenutzt. Er war relativ treu, wenn man seine Möglichkeiten in Betracht zog. Meist hatte er eine feste Freundin über längere Zeit; aber er brachte es nach Thomas´ Ansicht dabei fertig, die Liebe so leicht zu nehmen und seiner jeweiligen Freundin diese Leichtigkeit auch zu vermitteln, dass er sich ohne Dramatik auch wieder von ihr trennen konnte. In Wirklichkeit waren die Trennungen aber keineswegs immer so undramatisch verlaufen, wie Thomas dachte; aber nie erreichten sie die Dramatik, die bei Thomas regelmäßig das Ende kennzeichnete. Dessen Liebesbeziehungen hatten immer etwas Schweres an sich. Es ging immer um die große Liebe, und wenn er sich trennte oder die Frau mit ihm Schluss machte, gab es immer Tränen und Verbitterung. So war es auch mit seiner letzten Freundin gewesen: Zwei Jahre hatte er mit Iris zusammengelebt. Dann fühlte er sich von ihr in die Verantwortung genommen. Sie wollte ein Kind von ihm haben und ihn am liebsten auch gleich heiraten. Dabei war er sich doch gar nicht sicher, ob er mit ihr sein Leben verbringen wollte. Iris hatte eine Neigung, ihn zu erziehen. Sie machte ihm Vorschriften, wie er sich zu kleiden und wie er aufzutreten habe. Wenn es ihm schon zuwider war, seinen Schülern zu sagen, wie sie sich zu verhalten hatten, war es ihm geradezu unerträglich, selbst Opfer von Erziehung zu sein. Auch hatte ihm der Anblick ihrer Eltern zu bedenken gegeben. Ihre Mutter, eine dominante Matrone mit einem kastenförmigen Körper, an den noch ein paar schlaffe Brüste angeklebt waren, ließ ihn befürchten, auch Iris könne eines Tages so aussehen, obwohl sie gegenwärtig mit siebenundzwanzig noch eine sehr gute Figur hatte. Und als sie ihn dann austrickste und die Pille ohne sein Wissen absetzte, kam es zur Trennung mit heftigen Vorwürfen und Gewissensbissen. So sehr es ihm sonst an Entschlusskraft mangelte, war er nun entschieden, Iris nicht zu heiraten und notfalls die nächsten zwanzig Jahre Unterhalt zu zahlen für ein Kind, das er nicht gewollt hatte. Zu seiner heimlichen Freude hatte Iris aber eine Fehlgeburt,und er machte sich nicht die Mühe, Mitgefühl oder Trauer vorzutäuschen.
Wäre es nach Thomas gegangen, wären er und Krischa niemals Freunde geworden. Schon in der Schulzeit hätten sie nebeneinander im Unterricht gesessen, ohne den Wunsch sich kennenzulernen, und spätestens während des Studiums hätten sie sich endgültig aus den Augen verloren. Aber Krischa stellte den Kontakt immer wieder her und lud Thomas ein. Die Freundschaft mit Thomas ließ sich Krischa auch nicht von seiner Mutter ausreden, die es ungern sah, dass ihr Sohn so unzertrennlich an diesem „Bauerntrampel“ hing. Schon in der Schulzeit spielten Krischa und Thomas regelmäßig Tennis miteinander. Meist gewann Thomas. Dabei war zwischen beiden unbestritten, dass Krischa der bessere Tennisspieler war; aber irgendwie hatte Thomas doch meist am Ende das Spiel gemacht. „Das ist doch kein Tennis“, beschwerte sich dann Krischa, wenn er mit geraden und harten Schlägen Thomas in die Ecken gehetzt hatte und dann von einem krummen Passierball überrascht wurde. Offen und ehrlich, wie er war, versagte er seinem Freund aber dann doch nicht die Anerkennung: „Das unterscheidet eben ein Genie von einem normalen Menschen, der geradeaus denkt und geradeaus spielt.“
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