»Dein erster Kuss sollte nicht mit Schuldgefühlen in Verbindung stehen.«
»Aber, ...«
»Nach wie vor stehe ich auf Jungs. Interpretiere also nichts hinein. Du sollst nicht traurig daran denken. Behalte dies als deinen ersten Kuss in Erinnerung.«
»Wieso hast du das gemacht?«, wollte sie wissen und fasste sich an ihre roten Lippen. Auch meine pochten etwas.
»Weil ich weiß, wie es ist, wenn die Gefühle nicht erwidert werden. Es war meine Art, dir zu sagen: Geh hinaus, dort wirst du dein Glück finden.«
»Ich verstehe nicht.«
»Doch, tust du.«
»Du bist nicht lesbisch«, stellte sie fest. »Wolltest aber, dass ich an meinen ersten Kuss nicht mit einem schlechten Gewissen denke?« Sie sah verständnisvoll aus.
»Sollte ich dir versehentlich Hoffnungen gemach haben, entschuldige ich mich bei dir. Das wollte ich nicht.«
»Und deshalb hast du mich geküsst?«
»Ich würde gerne weiterhin mit dir befreundet sein. Nicht mehr und auch nicht weniger.«
»Du bist in jemanden verliebt«, entschied sie.
»Ja«, sagte ich traurig und konnte es nicht länger verleugnen. Die Gefühle überrannten mich.
»Mein Bus kommt gleich.« Erneut kamen die Tränen.
»Weine nicht, bitte. Es ist okay. Wirklich. Nur sollte der erste Kuss etwas ganz Besonderes sein. Meiner war es. Ich hätte ihn mir nicht schöner vorstellen können.«
»Wirklich?«
»Ja. Weil wir beide Gefühle für einander hatten. Auch wenn wir hinterher nicht zusammen waren, waren wir weiterhin Freunde.«
»Und das geht?« Nickend bestätigte ich es. Nein, sie musste nicht die ganze Wahrheit erfahren. Wir standen nun an der Bushaltestelle.
»Wirst du wieder zurückkommen?«, fragte ich sie.
»Kann ich nicht sagen«, gestand sie.
»Ich würde mich sehr freuen.« Sie lächelte. Dann zog ich ein kleines Kuscheltier aus der Tasche und reichte es ihr, zusammen mit einem Ernährungsplan, den ich während des Unterrichts anfertigte. »Du bist nicht alleine. Wir alle kämpfen gegen etwas an. Wenn du am Montag wieder im Klassenraum sein solltest, dann würde ich mich freuen. Ich würde deine Eltern anzeigen. Vielleicht mache ich es auch.«
»Nein, tue es nicht« , flehte sie.
»Pass auf dich auf, Marie.« Sie stieg in den Bus, als dieser anhielt, lächelte und winkte. Ich wartete solange, bis er wegfuhr. Dann ging ich, mit einem seltsamen Gefühl, zum Schulhof. Molly und ich warteten auf Jacob.
Wir spielten gerade Ball, als Frau Bertel aus dem Gebäude kam. Sie wirkte verärgert. Als sie mich sah, kam sie direkt zu mir.
»Wie konntest du es wagen!«
»Sie haben ein Problem, nicht ich.«
»Doch, hast du! Du bist gestört!«
»Hören Sie, Frau Bertel, Sie haben eine wirkliche tolle Tochter. Sie sollten sie nicht nach dem Beurteilen, was sie ist.«
»Sag mir nicht, wie ich meine Tochter zu behandeln habe.« Ich zuckte mit den Schultern. »Wir sollen einen Elternkurs belegen und zusammen zu einem Psychologen.«
»Das ist eine tolle Idee.« Sie sah aus, als würde sie mich jeden Augenblick erwürgen. »Ihre Tochter ist durcheinander. Sie sollten sie für einige Tage in Ruhe lassen. Und dann mit ihr Reden.«
»Den Teufel werde ich ...«
»Lassen Sie ihn doch da raus, der kann nichts dafür«, meinte ich genervt. »In einigen Tagen wird sich die Stimmung beruhigt haben und Sie können in Ruhe über alles reden, da Sie genug Zeit hatten, um darüber nachzudenken.«
»Bist du mit meiner Tochter zusammen?«
»Nein. Ich bin nicht lesbisch. Es gibt allerdings eine Menge Mädchen, die gerne mit jemanden wie Marie zusammen sein würden.«
»Treib es nicht zu weit.« Ihre Augen funkelten mich an.
»Sie sollten zu Ihrem Mann gehen und ein paar Tage all das machen, was Sie seit Jahren schon machen wollten, es aber nicht konnten. Gehen Sie und amüsieren Sie sich. Marie geht es gut. Sie wird sich schon wieder fangen. Da bin ich mir sicher. Denn, auch wenn Sie es nicht hören wollen, sie ist ein tolles Mädchen. Seien Sie für sie da, wenn sie Sie braucht.«
»Warum trug sie eigentlich deine Klamotten?«, erkundigte sie sich schroff.
»Weil ich sie ihr gab. Herr Traum hat Ihnen hoffentlich erzählt, wie wir sie heute Morgen fanden. Marie würde alles machen, nur um Ihren Erwartungen gerecht zu bleiben. Aber Sie sollten es nicht von ihr verlangen.« Damit wandte ich mich wieder Molly zu. »Eins noch, Frau Bertel, seien Sie stolz auf Ihre Tochter. Sie hatte sich getraut, Ihnen die Wahrheit zu sagen.«
Ich sah sie nicht an und wusste nicht, wie sie darauf reagieren würde. Alles, was ich hörte, waren ihre Absätze, die sich entfernten. Irgendwann setzte ich mich auf eine Mauer, vor dem Gebäude. Molly lag neben mir auf dem Boden. Sie hatte genug getobt. Und ich musste mit meinen Gedanken zurechtkommen. Ich merkte nicht mal, wie es anfing zu regnen. Erst als jemand mich an meiner Schulter berührte, schaute ich auf.
»Oh, Hallo, Herr Traum.« Er lächelte. Wir waren immer noch auf dem Schulhof, also nannte ich ihn Herrn Traum.
»Hallo, Maja.« Er beugte sich runter und begrüßte seine Hündin. »Alles klar?« Ich zuckte mit den Schultern.
»Ich würde Sie gerne zum Essen einladen.«
Er wirkte überrascht. »Sehr gerne.«
»Wir sollten uns umziehen«, schlug ich vor. Er nickte und wir fuhren zurück. Molly ließ die Zunge aus dem Fenster hängen, wahrscheinlich um die Regentropfen aufzufangen.
Ich ging in mein Zimmer und zog mich um, meine Tür hatte ich leicht angelehnt. Jacob stand davor und fragte, ob alles in Ordnung sei. Er stieß die Tür auf, ich war mit dem Rücken zu ihm gedreht und streifte gerade eine Bluse über und knöpfte sie zu.
»Tut mir leid«, stammelte er. Ich drehte mich um.
»Nicht nötig.« Ich schlich mich an ihm vorbei ins Badezimmer und öffnete die Tür, als ich gerade meine Haare machte. Zaghaft lächelte ich ihn an, weil er nicht wusste, wie er mit dieser Situation umgehen sollte.
»Nein, keine Sorge. Es wird kein Date, oder so was«, erklärte ich, als ich seinen Gesichtsausdruck bemerkte. »Aber ich würde gerne einen netten Abend in einem Restaurant verbringen.« Dann sah ich ihn an und fragte zögernd: »Es sei denn, Sie haben etwas vor?«
»Ja«, sagte er und fügte lachend hinzu: »Mit dir Essen zu gehen.« Ich hatte gerade mit meinem Lipgloss Farbe auf die Lippen gezaubert und stockte für den Bruchteil einer Sekunde.
»Okay, ich wäre dann soweit.« Er huschte noch einmal in sein Zimmer und kam kurz darauf zurück, während ich dabei war, meine Schuhe anzuziehen. Ich blickte hinauf und konnte kaum glauben, was ich da sah.
»Mmh?«
»Sie sehen gut aus«, stellte ich fest.
»Du auch.«
›Es ist kein Date, es ist kein Date, es ist kein Date, es ist kein Date. Es ist kein Date, es ist kein Date, es ist kein Date‹, sagte ich mir immer wieder.
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