Vincus empfing sie sitzend, sein Gesicht verriet nichts, keine einzige Emotion konnte Juchata spüren. Er saß auf seinem steinernen Stuhl, vor ihm der dunkle Tisch, die Voluten der Armlehnen rollten sich unter den Händen des Tragus. Er schaute von seinem Podest aus auf sie hinab. Eine Möglichkeit, sich ebenfalls zu setzen, gab es nicht, so dass Juchata stehend zu ihrem Vater hinaufschauen musste. All die Jahre vorher hatte sie nie einen Grund gehabt, an diesem Arrangement zu zweifeln, jetzt jedoch empfand sie die tiefe Demütigung, stehen und aufschauen zu müssen, während ihr Vater saß. Erst jetzt, in dem Moment, in dem ihr Gewissen ihr verriet, dass er nicht zufrieden mit ihr war und sie seinen Zorn von oben fürchten musste.
Vincus begann, wie immer in einer feierlichen Manier:
„Meine Tochter, endlich haben wir Zeit zu reden. Lange habe ich nachgedacht, habe mit mir gekämpft, ob ich dich überhaupt vor der morgigen Zeremonie sehen sollte. Doch dann dachte ich mir, dass es besser wäre. Ab morgen wirst du nicht mehr in diesem Haus leben, morgen schon wirst du mit deinem Gatten, wer auch immer es letztlich sein wird, zusammenwohnen, so dass wir nicht mehr oft die Gelegenheit haben werden, Zeit miteinander zu verbringen. Lass uns feiern und vielleicht über die Dinge reden, die dich bedrücken.“
Juchata blickte zu ihm auf, sagte aber vorerst nichts. Hinter ihr spürte sie die Präsenz des Baribas, der sich also immer noch im Raum aufhielt.
Lange sagten sie nichts, nur der Blick des Vincus durchbohrte seine Tochter, die vergeblich versuchte, ihm standzuhalten.
Dann durchbrach Vincus die eisige Stille:
„Meine Tochter, verzeih mir. Zu viel habe ich dir zugemutet. Es sollte so kommen, wie es kam. Alles ist meine Schuld, wir hätten viel mehr reden müssen, dann hättest du verstanden.“
Juchata sah ihren Vater eindringlich an, denn sie hatte vom Versteckspiel genug, das sie ihr ganzes Leben gespielt hatte. Sie spürte, wie das Bild ihrer Mutter sich an ihren Körper drückte, es wirkte schwerer und machte auf sich aufmerksam.
„Vater, ich habe sehr wohl verstanden. Ich habe verstanden, was du von mir wolltest. Ich habe verstanden, was die Gesellschaft von mir wollte und ich habe verstanden, was dieser fürchterliche Calavus von mir wollte. Alles ist so geschehen, wie ich es wollte. Nun, fast genauso.“
Vincus lächelte milde.
„Ich sehe, ich brauche keine großen Worte mehr machen. Du hast alle durchschaut, auch mich, deinen Vater. Und du hast aus deinem freien Willen gehandelt, das kann man sehen.“
Juchata dachte: „Ach Vater, nach meinem Willen habe ich nicht gehandelt, denn den kenne ich selbst nicht. Ich habe nur das kleinste Übel gewählt.“ Doch sie sagte es nicht. Stattdessen murmelte sie:
„Ja, Ophras hat aus mir gesprochen.“
„Wie du willst, doch jetzt müssen wir zusehen, dass Ophras Wille sich ein wenig ändert. Wir müssen einen Weg finden, den Eindruck, den du heute Nacht erweckt hast, nämlich Gladicus zu heiraten, in eine Situation umzuwandeln, in der du Calavus heiraten kannst. Es ist essenziell, verstehst du?“
Alles war so eindeutig, ihr Vater machte es ihr einfach, denn er ließ zu, dass sie ihn ausrechnen konnte. Er probierte es nicht auf seine diplomatische, wenn auch spitzfindige Art, die im Parlament so gefürchtet war. Er sprach, ohne Widerspruch zu dulden, ohne Zorn zwar, doch mit Nachdruck, tyrannisch väterlich, so wie sie ihn kannte. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, jetzt galt es zu widersprechen, alles andere vorher war ein reines Vorspiel des Kampfes, unbedeutend.
„Vater, ich werde morgen niemanden heiraten. Nicht Gladicus, nicht Calavus.“ Sie sprach leise, doch in der Stille der hohen Gemächer hallten ihre Worte nach, denn sie waren das schwerwiegendste, was sie je zu ihrem Vater gesagt hatte. In der Gesellschaft der Nocturnen war weiblicher Widerspruch undenkbar. Es hatte Fälle gegeben, in denen Väter ihre Töchter, Ehemänner ihre Gemahlinnen, Brüder ihre Schwestern aufs Schwerste misshandelt hatten, nachdem diese es auch nur ansatzweise gewagt hatten, Widerstand gegen das männliche Wort zu leisten. Sie wusste nicht, was ihr drohte, kannte nur ihren Vater sehr gut, dem sie alles zu traute, selbst die gemeinste Gewalttat, auch wenn er ihr noch nie Anlass für eine solche Annahme gegeben hatte.
Vincus war zu schlau, um seine Überraschung zu zeigen. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte es ihn gewundert, dass Juchata erst jetzt begann, diesen Wesenszug ihrer Mutter zu zeigen. Aber ausgerechnet jetzt, in diesem Moment, empfand er es als unpassend und störend. Er dachte an Marletta zurück, ihre Art, ihn zu durchschauen, seine Schwächen, die er gelernt hatte, so gut zu verstecken, sofort zu entdecken. Dieser Gefahr war er sich auch bei Juchata bewusst. Doch er würde nicht die gleichen Fehler wieder machen. Fehler, die unabwendbar in die Katastrophe geführt hatten, die er niemals wieder gutmachen konnte, auch wenn heute kaum jemand davon wusste, außer ihm selbst. Dieses Geheimnis trug er tief in seinem Herzen, ebenso wie die Liebe zu seiner Tochter. Niemals könnte er einen ähnlichen Weg gehen, nicht einmal jetzt. Doch selbst die größte Überzeugung, die stechendste Logik greift nicht, wenn das Temperament den Verstand umnebelt.
„Du wirst gehorchen.“ sagte er ruhig, aber bestimmt.
„Niemals. Es geht zu weit, es hört auf. Hier und heute.“
Sollte Juchata noch vor wenigen Minuten gezweifelt haben, war ihre Entschlossenheit jetzt geweckt, ihr Widerstand gewachsen. Auch Vincus spürte, dass er diese Machtprobe bestehen musste, sonst war es um sein Lebenswerk und die Zukunft seines Namens geschehen. Seine Stimme hob sich, seine aufsteigende Wut war nun deutlich zu spüren.
„Wie gesagt, du wirst gehorchen. Was immer du jetzt empfindest, es ist falsch. Du kannst jetzt, heute Nacht sagen, was immer du willst. Morgen Nacht, bei der Zeremonie, wirst du nicht mehr reden. Das musst du auch nicht. Es ist der Gatte, der dich annimmt, nicht du, denn dein Teil ist mit der heutigen Nacht beendet. Wenn nötig, erlebst du die morgige Zeremonie ohne Bewusstsein, dafür sorge ich schon. Und wenn du erst verheiratet bist, wage nicht, Calavus zu widersprechen. Er ist nicht so gütig wie ich, der hätte dich grün und blau geschlagen, was sein Recht ist. Damit ist wohl das Nötigste geklärt. Ich werde mir jetzt überlegen, wie wir es anstellen können. Du gehst zurück in deine Gemächer, die Baribas ab jetzt bewachen wird.“
Juchata stand wie vom Donner gerührt. Jetzt war sie es, die ihren Vater mit ihren Blicken durchbohrte.
„Das ist nicht dein Ernst. Niemals, niemals wird das geschehen. Von wegen gütig. Du sprichst Worte, die du nicht einmal verstehst. Willst du es genauso machen wie bei Mutter? Willst du das?“ Sie schrie und tobte, wäre beinahe auf Vincus losgegangen, konnte sich jedoch gerade noch beherrschen. Schon stand sie neben ihm auf dem Podest, hatte den Arm bereits zum Schlag erhoben.
Vincus war wie erstarrt. Was wusste Juchata über ihre Mutter? War es eine Ahnung? Oder hatte sie seine intimsten Gedanken, seine größten Sünden entdeckt? Seine Tochter war gefährlich, das ahnte er spätestens jetzt. Für einen Moment verlor er die Beherrschung. In dem Moment, als Juchata ihre Hand wieder senkte, erhob er sich. Juchata sah noch, dass auch er seinen Arm hob.
Der mächtige Schlag traf sie unvorbereitet. Es war das erste Mal, dass er sie körperlich gezüchtigt hatte. Mit der Rückseite seiner Handfläche traf er sie, mit voller Wucht, so dass sie schwungvoll zu Boden stürzte.
„Baribas....“ Vincus rief donnernd seinen ergebenen Diener, der herbei gelaufen kam, schneller als sonst, denn seine Verletzung schien wie verschwunden.
„Bring sie zurück in ihre Gemächer und bewache sie. Du verantwortest ihr Wohlsein mit deinem Leben.“
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