Endlos zieht sich die Reise. Die Decksmannschaft kommt mit dem Entrosten ganz
gut voran, obwohl wegen Funkenschlags keine Maschine benutzt werden darf und jedes neue Arbeitsfeld mit dem Bootsmann abgestimmt werden muss. Alle stellen fest, dass es auch gutes und solides Material am Schiff gibt.
Südlich der Azoren, in der Gegend, in der ein halbes Jahr später die „Pamir“ untergehen wird, kommt die „Carola“ in einen 3-Tage-Sturm mit wechselnden Windrichtungen, der sich zu einem kreischenden Orkan entwickelt. Es stürmt ohne Unterlass. Die Masten ritzen die tief fliegenden Wolken. Um das Schiff herum gibt es nichts als das Kreischen des Sturmes, das Toben des Meeres und das Krachen der Brecher, die auf das Deck knallen und zwischen den Rohrleitungen kaum abfließen wollen. Die „Carola“ stampft, rollt, schlingert und schießt laufend mit Bug und Vorschiff aus der See in die Höhe. Dabei ächzt und stöhnt sie wie ein Schwerstarbeiter, dem schwere Last die letzte Luft aus den Lungen presst. So allmählich tauchen Zweifel an einer glücklichen Heimfahrt wieder auf, die jeder der Mannschaft in den letzten Winkeln seines Bewusstseins vergraben hatte. Werden alle Nieten und Schweißnähte halten? In Gedanken machen wir uns wieder vertraut mit den vereinbarten Rollen bei den Rettungs-bootübungen.
Zuerst kämpft sich die „Carola“ exakt gegen die See an. Als die Brecher nach Stunden schräg und schräger von vorn auf das Deck knallen, immer höher und steiler werden und in immer kürzeren Abständen kommen, muss etwas geschehen, bevor die morschen Rohrleitungen über Bord gehen. Das Schiff muss gewendet werden, damit es, Heck gegen den Wind, die Wellen besser abreiten kann.
Ein gefährliches Manöver, in dem alle, einschließlich der Maschinenmannschaft, mit Schwimmwesten auf dem höheren Offiziersdeck in Bereitschaft stehen, weil keine Möglichkeit ausgeschlossen werden kann. Es sind schlimme Momente. Aber der Erste ist selbst am Ruder, passt exakt den richtigen Sekundenbruchteil ab, reißt mit „Maschine full speed“ das Ruder nach Lee und erst langsam und immer schneller dreht das Schiff breitseit in ein Wellental hinein und wird wie ein Fahrstuhl auf den nächsten Wellenberg hoch gerissen - aber da hat sich das Schiff bereits über den kritischen Punkt hinaus weiter gedreht. Es saust mit steuerbord in das nächste Wellental runter, dreht sich weiter und bohrt sich in den vorauslaufenden Wellenberg. Obwohl das Schiff sekundenlang U-Boot spielt und das Wasser bis zur Kapitänskajüte schwappt, läuft es gut ab. Die gleiche Bewegungsrichtung nimmt die zerstörerische Kraft aus dem Tauchvorgang und schon steht der Dampfer richtig im Wind. Die Feinjustierung hält das Schiff dann so, dass die See etwas quer von hinten kommt, damit Ruder und Schraube nicht zu lange aus dem Wasser ragen.
Bootsmann Jens hat „everything under controll“. Mal sieht man ihn am Ruder, mal spricht er mit dem Reiniger oder Schmierer und schleppt Staufferfett für seine Ventile an Deck, mal rennt er zwischen zwei Brechern vom Vordeck nach achtern und mal kontrolliert er die Tanks.
Der Orkan hat nachgelassen, ist zu einem normalen Sturm von vielleicht 9 oder 10 abgeflaut und das Schiff macht bereits langsame Fahrt. Plötzlich gibt es Alarm. Ein entsetzliches Getöse bricht aus. Das gleiche Getöse, das ich Jahre später im Film „Alien“ hören werde, kurz bevor das Raumschiff gesprengt wird. Anscheinend ist das militärischer US-Standard! Jens hat an backbord, im vorderen Viertel des Schiffes, in einem leeren Außentank, einen Wassereinbruch entdeckt. Alle versammeln sich an dem betroffenen Tank. Dann steigen Kapitän, der Erste und Jens in die Tiefe. Diagnose: Spantenbruch durch Wellenschlag. Dadurch haben sich Nieten gelockert und lassen Wasser eindringen.
„What`s to do?“ Jens blinzelt mir zu: „Vor 100 Jahren wurde in so einer Situation der Moses kielgeholt, damit er die Stelle von außen abdichtet.“ Erstmals gerate ich bewusst in den Blick der Schiffsführung. Bisher hatten die immer durch mich hindurch gesehen. Ich erwidere: „Nee! Bloß so etwas nicht! Ich fahre zur See, um auf dem Wasser zu sein - nicht drin!“
Die drei beraten offen im Beisein aller. Durch die besondere Situation bedingt, gibt es keine passenden Balken oder Eisenstangen an Bord. Wir hatten alles, was an Reparatur erinnert, Balken, Bretter, Stangen usw. in Galveston in Müllcontainer entsorgt. Es muss irgendein nachhaltiges Provisorium gefunden werden. Einer der Matrosen sagt: „Können wir nicht die Werkbank aus dem Kabelgatt zu passenden Stücken zersägen?“
Darauf Jens: “Ich hab es! Das Bettgestell aus dem Lazarett, Brettchen aus dem Wandregal der Offiziersmesse, die Beine der Werkbank zu passenden Keilen zersägt und allen Speck, den der Koch noch hat, auf das Leck fixiert und verkeilt.“
Alle, einschließlich dem Kapitän, klatschen Beifall.
So geschieht es und zwei Stunden später atmen alle auf. Der Wind lässt weiter nach und trotz recht hoher See wird die „Carola“ auf Kurs Nordost gebracht. Noch können weder Position noch Abdrift berechnet werden. Am nächsten Tag erwischt jedoch einer der Offiziere die Sonne und nach Kurskorrektur geht es Richtung Ärmelkanal. Das Schiff hat noch ein Drittel der Strecke und die Biskaya vor sich. Noch eine Woche.
Eine stürmische Woche, die allerdings keine Probleme mehr bereitet - nur eine unangenehme Überraschung: Die „Carola“ zieht eine Ölfahne hinter sich her. Irgendeiner der beladenen Tanks ist Leck und verliert Ladung. Für mich neu und interessant zu beobachten ist, welchen Einfluss die Ölfahne auf die Wellen achteraus hat. Links und rechts von der Spur des Schiffes sind die Wellen deutlich höher und kräftiger, als auf öliger Strecke.
Am Eingang des Ärmelkanals kommt uns ein deutscher Seenotrettungskreuzer entgegen. Weil Öl verloren wird, darf das Schiff nicht durch den Nord-Ostsee-Kanal fahren. Nach Kopenhagen muss der Umweg über den Skagerrak-Kattegat genommen werden. Ersterer ist im Winter ziemlich unberechenbar und es können gewaltige Wellen auftreten.
Die Überführung geht allmählich zu Ende und alle wissen, dass die meisten Besatzungsmitglieder in Rotterdam „den Sack nehmen“ können. Schwermut breitet sich aus. Der Verlust dieses Schiffes, das allen einiges abverlangt hat, ist schwer.
Durch den Nord-Ostsee-Kanal Richtung Rotterdam gibt es für mich noch ein wichtiges Gespräch mit Jens:
„Du bist ein komischer Vogel. Tu dir selbst den Gefallen und mustere als nächstes noch einmal auf einem Kümo an. Dann wirst du feststellen, dass deine vermeintliche Erfahrung mit dem ersten überhaupt keine war. Es war ein Reinfall. Sonst nichts. Es war etwas Einmaliges, das sich für dich nie wiederholen wird. Kümos sind Klasse! Die Atmosphäre ist familiär, man wird ganzheitlich gefordert und vieles wird nicht so verbissen gesehen, wie auf großen Pötten. Die ähneln viel mehr Fabriken, als du denkst.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen. Wie meinst du das? Schau uns hier an. Was ähnelt hier einer Fabrik?“
„Auf jeden Fall die Arbeitszeit. Darfst du hier in die Maschine hinunter? Nein! Aber auch hier machst du ja keine allgemeine Erfahrungen. Hier ist alles einmalig und nicht vergleichbar mit anderen Schiffen. Bist du schon mal vom Fahrrad gefallen?“
„Ja!“
„Und? Hast du seitdem nie wieder ein Fahrrad bestiegen?
„Doch! Natürlich! Runtergefallen und wieder rauf auf den Sattel.“
„Genau das meine ich. Wenn du nicht sofort wieder aufsteigst, bekommst du mit der Zeit eine immer größere Abneigung, sprich Angst, dagegen. Dann stellst du nach Jahren fest, seit dem Sturz hast du nie wieder im Sattel gesessen.“
„Wenn dir die Freundin wegläuft, versuchst du es ja auch direkt mit einer Neuen.“
„Pass auf, was du sagst. Ich habe keine Freundin. Ich bin verlobt.“
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