Brasilien, mein Traum!
Was suche ich hier in der kalten Nordsee? Wenn die Fahrt wenigstens südwärts ginge. Aber Nein! London - Hamburg - Rotterdam - Hull - Edinburgh - Bremen - London - Cardiff usw.
Ich bin unglücklich.
„Geh überhaupt erst einmal auf ein Schiff und schau, wie es dort zugeht. Wenn du das gepackt hast, wirst du schon ein Schiff finden, das nach Brasilien fährt“, sagte Achim, der Leichtmatrose, im Seemannsheim St. Pauli. Er gab mir noch weitere Tips, ohne dafür mehr als drei Bier zu verlangen. Als ich dann auf der Heuerstelle des Hamburger Seeamtes nach einem Schiff fragte, das nach Südamerika fährt, lachte der zuständige Sachbearbeiter bloß: „Geh nach `Planten und Blomen`. Die haben ein Palmenhaus. Dort kannst du ja den Affen spielen.“ Ich schämte mich, so eine blöde Frage gestellt zu haben und unter dem Gelächter mehrerer alter Fahrensleute, die zugehört hatten, wies mir der Heuerbeamte die „Andrea“ zu.
Ich bin unglücklich, weil ich hier an Bord nicht hingehöre. Das Steuern dieses Schiffes bereitet mir Schwierigkeiten. Ich kann die Wechselwirkungen zwischen meinen Ruderbewegungen, dem Seegang, dem Wind, seiner Stärke und Richtung nicht einschätzen. Die mechanische Lenkhilfe bekomme ich einfach nicht in den Griff. Von Seiten meiner Kameraden fehlen, auf Anordnung des Steuermannes, erklärende bestätigende oder tröstende Worte. Ich werde an das Verhalten meiner älteren Brüder erinnert, die auch mehr traumatisierten, als förderten. Einen reingewürgt bekomme ich täglich. Darin ist der Steuermann Spitze!
„Willi! Komm mal rüber! Die Tampen hier müssen anders aufgeschossen werden. Die vertüddeln sich ja im Gebrauch. Mach das nochmal.“
„Willi, sag dem Harry, er soll einen Pott Pellkartoffeln aufsetzen. Ich rühre dir gleich eine „mixture“ (engl gesprochen) an: Staufferfett, Öl, Teer und Stampfkartoffeln. Damit reibst du das laufende Gut der Winschen ein, damit der Draht geschmeidiger wird.“
„Was? Mit diesen Pfoten willst du das Ruder anfassen? Hau ab und wasch sie dir.“
„Das ist der Teer von ihrer Spezialmischung. Da hilft alles Scheuern nicht.“
„So kommst du mir nicht ans Ruder. Dann warten wir eben, bis das Zeug von selbst abfällt. Bis dahin machst du Decksarbeiten und wenn dir der Arsch abfriert.“
„Was sagst du Willi? Du hast dir am rostigen Draht eine Blutvergiftung in der Hand geholt? Zeig mal! Der Streifen geht ja erst bis zur Handwurzel. Leg da mal eine heiße Pellkartoffel drauf. Die hält den Streifen auf. Und wenn du Glück hast, zieht die den auch wieder zur wunden Stelle zurück.“
„Und wenn nicht?“
„Dann stirbst du. Ist doch egal wovon. Müssen wir doch alle. Wenn deine Zeit abgelaufen ist, dann ist sie abgelaufen.“
Der Idiot!
Bei windigen Null Grad Außentemperaturen: „Willi, hol `nen Eimer warmes Süßwasser, klettere auf das Dach des Ruderhauses, leg dich auf den Bauch und wasche mal das Salz von den Fenstern.“
„Persennings werden so genäht und nicht anders. Wenn du nicht die Fingerkraft hast, dann musst du halt bei jedem Stich den Hammer zu Hilfe nehmen.“
„Blaugefrorene Finger? Na und? Freue dich, dass ich dich damit nicht in den Mast schicke. Haben wir alles schon mitgemacht. Was dich nicht umbringt, macht dich hart.“
Ich bin unglücklich und 10.000 km von Brasilien entfernt.
Natürlich hat die Antipathie des Steuermanns gegen mich viele Gründe. In seinen Augen hatte ich auf seinem Schiff nichts zu suchen. Ein Schiff braucht harte Kerle, die bei jedem Wetter wie Eichhörnchen die Masten rauf und runter krabbeln. Die Befehle ausführen, ohne zu fragen, ob und warum gerade diese Anordnung notwendig ist. Als er sich einmal mit dem Hammer auf den Daumen haut und ich auf sein Aufjaulen mit dem Satz reagiere: „Na, so hart wie sie immer tun, ist ihr Daumen aber auch nicht“, schmeißt er den Hammer vor Wut in meine Richtung. Gut! Er wollte mich nicht treffen und der Hammer sauste in einen Berg mit Tampen und Tauen, wie es im Kabelgatt üblichlicherweise herumliegt. Nein! Mein Mundwerk ist es nicht allein. Sehr viel mehr neidet er mir meine Gesundheit, beziehungsweise die Tatsache, dass ich nie seekrank werde. Ihm dagegen wird bei einem bestimmten Typ kabbeliger See stets speiübel. Das normale Schwanken des Schiffes macht ihm wenig aus. Das ist berechenbar und der Körper stellt sich automatisch rechtzeitig auf eine kompensatorische Haltung ein. Aber kabbelige See ist chaotisch und unberechenbar. Kabbelige See bringt auf kleinen Schiffen auch erfahrene Seeleute beim Gehen ins Taumeln.
In solchen Situationen schickt mich der Steuermann gern in die Kombüse, ohne Bullaugen oder Aussicht, um für die gesamte Besatzung Essen zu kochen. Natürlich ist das gewöhnungsbedürftig und ich hole mir laufend blaue Flecke, werde aber nicht seekrank. Das kann der Typ nicht vertragen.
Ich bin unglücklich und 10.000 km von Brasilien entfernt.
Nach einiger Zeit frage ich Harry, den zweiten Schiffsjungen hier an Bord. Der hat eine bessere Position. Er ist ein anderer, nicht so offener undiplomatischer Typ wie ich es bin und kommt vom Priwall, der neuen Schiffsjungenschule in Lübeck.
„Harry, was hältst du von unserem Steuermann?“
„Ich komme mit dem ganz gut klar, weil er dich in der Schusslinie hat. Der braucht immer seinen Blitzableiter.“
„Hast du einen Tip, was ich tun kann, dass er nicht immer auf mich zielt?“
„Nee - dann bin ich dran. Ich schätze, abmustern ist das Einzige.“
„Das mache ich auch, sobald wir Hamburg anlaufen. Wie rechtzeitig muss man hier kündigen?“
„Wenn du dem Alten eine Woche vorher Bescheid sagst, reicht das.“
Meine Kündigung erfolgt nicht geplant, sondern spontan. Kurz vor Weihnachten, an der Ostküste Englands, zieht eine Frostwelle über die Insel. Bei dieser Saukälte erwartet der Steuermann, dass ich mit heißem Wasser die hinteren Aufbauten (mit Kapitänskajüte und Ruderhaus) abwasche. Auf der weißen Farbe sehe ich meine Striche als kleine, gefrorene Wassertropfen. Am Quast gefriert mir das Wasser. Als ich den Steuermann auf den Unsinn dieser Anordnung aufmerksam mache, besteht der darauf, dass ich weitermache. Unsinnige Beschäftigungstherapie. Daraufhin sage ich so laut vor mich hin, dass er es hören muss: „Dieser verdammte Schinderhannes!“ Mir ist klar, dass er diese Äußerung als Kriegserklärung auffassen wird. Und den zu erwartenden dümmlichen Macht-spielchen beuge ich durch meine Kündigung vor. Wir sprechen die letzten Tage kein Wort mehr miteinander.
Insgesamt dauert meine Arbeit auf diesem Schiff fünf Monate und ich lerne, lerne, lerne. Von dem gichtigen Alten und dem Schinderhannes lasse ich mich jedenfalls nicht unterkriegen. Allmählich verblasst Brasilien, weil es ja nun wirklich wichtiger ist, den Alltag nicht nur zu überstehen, sondern auch zu meistern. Andererseits mürbt mich der Dauerbeschuss durch den Steuermann. Gleichzeitig festigt sich der Gedanke, meine Seefahrt als dumme, voreilige und unrealistische Episode zu sehen. An Land gibt es so viele schöne Berufe, für die Mitarbeiter gesucht werden. Und wenn es zu Hause, in meiner Heimatstadt, noch so spießig zugeht. Die Zugehörigkeit hat auch Vorteile.
Als ich kündige, sagt Harry: „Ich komme mit. Hamburg kenne ich noch nicht.“
Er hat in Bremen angeheuert und dieser Kümo ist auch sein erstes Schiff. Weil er meine Einschätzung des Steuermanns teilt und ich sein Verhalten kameradschaftlich findet, nehme ich ihn mit zum Seemannsheim St. Pauli in der Hafenstraße, wo wir auch einen Schlafplatz bekommen. Das Heim ist eine Einrichtung der Evangelischen Seemannsmission und wird von einem großartigen Pfarrer geleitet. Ich kenne ihn, weil ich im Juli letzten Jahres, als ich von den Cap Verdischen Inseln zurückkam, dort schon einmal übernachtete.
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