Noch in derselben Nacht gelangten sie ans Ziel und in die Mündung des Flusses Phasis. Freudig kletterten sie an den Segelstangen empor und takelten das Schiff ab; dann trieben sie es mit den Rudern in das breite Bett des Stromes, dessen Wellen vor der gewaltigen Masse des Fahrzeugs sich scheu zurückzuziehen schienen. Zur Linken hatten sie den hohen Kaukasus und Kytaia, die Hauptstadt des Kolcherlandes; zur Rechten breitete sich das Feld und der heilige Hain des Ares aus, wo der Drache das Goldne Vlies, das an den blätterreichen Ästen einer hohen Eiche hing, mit seinen scharfen Augen bewachte. Jetzt erhub sich Iason am Borde des Schiffes, er schwenkte hoch in der Hand einen goldenen Becher voll Weins und brachte dem Flusse, der Mutter Erde, den Göttern des Landes und den auf der Fahrt verstorbenen Heroen ein Trankopfer dar. Er bat sie alle, mit liebreicher Hilfe ihnen nahe zu sein und über den Tauen des Schiffes, das sie eben anbinden wollten, zu wachen. „So wären wir denn glücklich zum kolchischen Lande gelangt“, sprach der Steuermann Ankaios: „nun ist’s Zeit, daß wir uns ernstlich beraten, ob wir den König Aietes in Güte angehen oder auf irgendeine andere Weise unser Vorhaben ins Werk setzen wollen.“ „Morgen“, riefen die müden Helden. Und so befahl denn Iason, das Schiff in einer schattigen Bucht des Flusses vor Anker gehen zu lassen. Alle legten sich zu süßem Schlummer nieder, der sie jedoch nur mit kurzer Rast erquickte, denn bald öffnete ihnen das Morgenrot die Augenlider.
IASON IM PALASTE DES AIETES
Der frühe Morgen vereinigte die Helden zur Ratsversammlung. Iason erhub sich und sprach: „Wenn euch meine Meinung gefällt, ihr Helden und Genossen, so sollt ihr übrigen alle ruhig, doch die Waffen in der Hand, im Schiffe bleiben; nur ich, die Söhne des Phrixos und zwei aus eurer Mitte wollen uns nach dem Palaste des Königes Aietes aufmachen. Hier will ich es versuchen und ihn zuerst mit höflichen Worten fragen, ob er das Goldne Vlies in Güte uns überlassen wolle. Nun zweifle ich nicht: er wird die Bittenden, auf seine Stärke trotzend, abweisen. Wir aber werden auf diese Weise aus seinem eigenen Munde die Gewißheit erhalten, was uns zu tun ist. Und wer kann es verbürgen, daß unsere Worte nicht doch vielleicht ihn günstig stimmen werden? Hat doch auch früher die Rede über ihn vermocht, daß er den unschuldigen Phrixos, der vor seiner Stiefmutter floh, in den Schutz seiner Gastfreundschaft aufnahm.“ Die jungen Helden billigten alle die Rede Iasons. So griff er selbst zum Friedensstabe des Hermes und verließ mit des Phrixos Söhnen und mit seinen Genossen Telamon und Augeias das Schiff. Sie betraten ein mit Weiden bewachsenes Feld, das Kirkäische genannt; hier sahen sie mit Schaudern eine Menge Leichen an Ketten aufgehängt. Doch waren es keine Verbrecher oder gemordete Fremdlinge; vielmehr galt es in Kolchis für einen Frevel, die Männer zu verbrennen oder in die Erde zu begraben, sondern sie hängten sie, in rohe Stierfelle gewickelt, in den Bäumen auf, ferne von der Stadt, und überließen sie der Luft zum Austrocknen. Nur die Weiber wurden, damit die Erde nicht zu kurz käme, in diese begraben.
Die Kolcher waren ein gar zahlreiches Volk. Damit nun Iason und seine Begleiter von ihnen und dem Mißtrauen des Königes Aietes keine Gefahr liefen, hängte Hera, die Beschirmerin der Argonauten, solange sie unterwegs waren, eine dichte Nebelwolke über die Stadt und zerstreute sie erst wieder, als sie glücklich in dem Palaste des Königes angekommen. Da standen sie denn in dem Vorhofe und bewunderten die dicken Mauern des Königshauses, die hochgeschweiften Tore, die mächtigen Säulen, die hier und dort an den Mauern vorsprangen. Das ganze Gebäude umgürtete ein hervorstehendes steinernes Gesimse, das mit ehernen Dreischlitzen abgekantet war. Schweigend traten sie über die Schwelle des Vorhofes. Diese umgrünten hohe Rebenlauben, darunter perlten vier immerfließende Springquelle; der eine sandte Milch empor, der zweite Wein, der dritte duftendes Öl, der vierte Wasser, das im Winter warm, im Sommer eiskalt war. Der kunstreiche Hephaistos hatte diese köstlichen Werke geschaffen. Derselbe hatte dem Besitzer auch Stierbilder aus Erz gefertiget, aus deren Munde ein furchtbarer Feueratem ging, und einen Pflug aus lauterm Eisen geschaffen: alles dem Vater des Aietes, dem Sonnengotte, zu Dank, der den Hephaistos in der Gigantenschlacht einst auf seinen Wagen genommen und gerettet hatte. Aus diesem Vorhofe kam man zu dem Säulengange des Mittelhofes, der sich zur Rechten und zur Linken hinzog und hinter welchem viele Eingänge und Gemächer zu schauen waren. Querüber standen die zwei Hauptpaläste, in deren einem der König Aietes selbst, im andern sein Sohn Absyrtos wohnte. Die übrigen Gemächer hielten die Dienerinnen und die Töchter des Königes, Chalkiope und Medea, besetzt. Medea, die jüngere Tochter, war sonst wenig zu schauen; fast alle Zeit brachte sie im Tempel der Hekate zu, deren Priesterin sie war. Diesmal aber hatte Hera, die Schutzgöttin der Griechen, ihr in das Herz gegeben, im Palaste zu bleiben. Sie hatte eben ihr Gemach verlassen und wollte das Zimmer ihrer Schwester aufsuchen, als sie den unerwartet daherschreitenden Helden begegnete. Beim Anblicke der Herrlichen tat sie einen lauten Schrei. Auf ihren Ruf stürzte Chalkiope mit allen ihren Dienerinnen aus ihrem Gemache hervor. Auch diese Schwester brach in einen lauten Jubelruf aus und streckte danksagend ihre Hände gen Himmel; denn sie erkannte in vieren der jungen Helden ihre eigenen Kinder, die Söhne des Phrixos. Diese sanken in die Arme ihrer Mutter, und lange nahm das Grüßen und Weinen kein Ende.
Zuletzt kam auch Aites heraus mit seiner Gemahlin Eidyia, denn der Jubel und die Tränen ihrer Tochter hatten sie hervorgelockt. Sogleich füllte sich der ganze Vorhof mit Getümmel; hier waren Sklaven damit beschäftigt, einen stattlichen Stier für die neuen Gäste zu schlachten; dort spalteten andere dürres Holz für den Herd; wieder andere wärmten Wasser in Becken am Feuer; da war keiner, der nicht im Dienste des Königs etwas zu tun gefunden hätte. Aber ihnen allen ungesehen schwebte hoch in der Luft Eros, zog einen schmerzbringenden Pfeil, senkte sich mit diesem unsichtbar zur Erde nieder, und hinter Iason zusammengekauert, schnellte er vom gespannten Bogen das Geschoß auf die Königstochter Medea, der bald der Pfeil, dessen Flug niemand und sie selbst nicht bemerkt hatte, unter der Brust wie eine Flamme brannte. Wie eine schwer Erkrankte mußte sie einmal über das andere hoch aufatmen; von Zeit zu Zeit warf sie heimliche Blicke auf den herrlichen Helden Iason; alles andere war aus ihrem Gedächtnisse geschwunden; ein einziger süßer Kummer bemächtigte sich ihrer Seele; Blässe wechselte auf ihrem Antlitz mit Purpurröte.
In der frohen Verwirrung war niemand auf die Verwandlung aufmerksam, die mit der Jungfrau vorgegangen war. Die Knechte trugen die zubereiteten Speisen herbei; und die Argoschiffer, die sich vom Schweiße der Ruderarbeit im warmen Bade gereinigt hatten, labten sich, fröhlich zu Tische sitzend, an Speise und Trank. Über dem Mahle erzählten dem Aietes seine Enkel das Schicksal, das sie unterwegs betroffen hatte, und nun fragte er sie auch leise nach den Fremdlingen. „Ich will es dir nicht bergen, Großvater“, flüsterte ihm Argos zu, „diese Männer kommen, das Goldene Vlies unsers Vater Phrixos von dir zu erbitten. Ein König, der sie gern aus ihrem Vaterland und ihrem Eigentum vertreiben möchte, hat ihnen diesen gefährlichen Auftrag erteilt. Er hofft, sie werden dem Zorne des Zeus und der Rache des Phrixos nicht entgehen, bevor sie mit dem Vlies in ihre Heimat zurückkommen. Ihr Schiff hat ihnen Pallas (Minerva) bauen helfen, kein solches, wie wir Kolcher sie gebrauchen, von denen wir, deine Enkel, freilich das schlechteste bekommen haben; denn im ersten Windstoße ging es zu Scheitern. Nein, diese Fremdlinge haben ein Schiff, so fest gezimmert, daß alle Stürme vergebens dagegen ankämpfen, und sie selbst sitzen unaufhörlich an dem Ruder. Die tapfersten Helden Griechenlands haben sich in diesem Schiffe versammelt.“ Und nun nannte er die Vornehmsten mit Namen, meldete ihm auch Iasons, ihres Vetters, Geschlecht.
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