Im Nu färbte sich der goldgelbe Tee in eine graue Brühe und Moritz konnte sich einen Kommentar nicht verkneifen: „Sieht irgendwie unappetitlich aus, so grau.“
„Schmeckt besser, als es aussieht!“, konterte Anita mit einem leicht abgewandelten Zitat von Alfons Zitterbacke und beide mussten lachen. Bis zum Erbrechen hatten sie mit Valentina die Schallplatten mit den Geschichten des Pechvogels Sonntagmorgen für Sonntagmorgen zu dritt im Bett gehört.
Ohne dass sie das Öffnen der Haustür von der Küche aus bemerkt hatten, stand Frederick vor ihnen und wedelte wild mit dem Schwanz, der Moritz an ein durchgeknalltes Uhrenpendel erinnerte. Dabei wirkte es, als lächle der verrückte Hund breit von einem Ohr zum anderen, was Moritz beunruhigend fand. Zaghaft beugte er seinen Oberkörper herunter, um den Colliekopf zu tätscheln, was das Pendel aufs Neue zum Ausflippen brachte. Dicht hinter dem Hund folgte Daniel, dessen wohlgeschnittene Gesichtszüge sich wiederum versteinerten, als er Moritz mit Anita vertraulich am Küchentisch bei einer Tasse Tee erblickte. Aber das Bild trog: Moritz fühlte sich unter dem Blick des makellos gekleideten Mannes unwohl. Unter dem schmal geschnittenen Pullover mit V-Ausschnitt erkannte er nicht einmal einen klitzekleinen Bauchansatz — Daniel Kretschmann schien körperlich in bester Verfassung.
Der smarte Anwalt drückte Anita seinen festen Kuss stempelgleich auf die Mitte der Stirn. „Tja, da sind wir wieder“, stellte er dabei unnütz fest. Widerstrebend reichte er daraufhin Moritz die Hand, die dieser pflichtbewusst ergriff, während er sich schon erhob: „Ich geh’ gleich mit hoch zu Valentina und helfe ihr mit den Sachen.“
Im Flur krachte Moritz fast mit Valentina zusammen, die ihn stürmisch umschlang. Wie ein Kleinkind ließ sie sich auf seinem Arm die Treppe zum Kinderzimmer hochtragen, welches im obersten Stockwerk direkt unter dem Dach des Hauses lag. Passenderweise sprachen alle Familienmitglieder von der schönen Aussicht . Die Stufen zur schönen Aussicht empor, genoss Moritz die Nähe des Moments und kuschelte seine Nase in Valentinas karierten Kapuzenpullover, der seit Jahren mit ihr mitzuwachsen schien. Zu ihrem 15. Geburtstag hatte er ihr den Pullover geschenkt. Wieder so ein Indiz dafür, wie die Zeit raste.
„Papa, lass’ das“, kicherte Valentina und wehrte dabei Moritz’ Nase ab. „Ich bin doch kein Kleinkind mehr.“
„Du riechst aber so! Wie ein rosa Marzipanschweinchen.“
Dafür begann Valentina die Frisur ihres Vaters, die ohnehin nicht als solche erkennbar war, zu zerwuscheln.
Während Moritz seine Tochter wieder auf die eigenen Beine stellte, spürte er bereits den schmerzlichen Vorwurf seines Rückens: 45 Kilo schleppte man in Moritz’ Alter nicht mehr ungestraft so mir nichts, dir nichts eine steile Stiege hinauf.
Das Zimmer war gemütlich mit viel hellem Holz eingerichtet und roch definitiv nicht nach süßem Kleinkind — hier herrschte der typische Mief schlecht gelüfteter Jugendzimmer. Poster von Sängerinnen und Sängern — vielleicht waren es auch Schauspieler oder andere im Rampenlicht stehende Menschen, Moritz war sich da nicht sicher — zierten die in einem satten Orangeton gestrichenen schrägen Wände. Auf einem Regal sammelten sich Schminkutensilien, die üblichen Teenager-Zeitschriften, jede Menge CDs und Bücher, Kaugummis, Schmuck und Haarspangen. Ein Mädchen auf dem Sprung zur jungen Frau ...
Ein kleiner Teil des Kindes steckte noch in ihr, aber vielleicht auch nur in den Augen von Moritz, der nur mühsam mit dem Hormonchaos der pubertierenden Tochter zurande kam. Von der pflegeleichten Rosa-Prinzessinnen-Phase hatte er schon vor Jahren schweren Herzens Abschied nehmen müssen. Nun hockte Valentina mit blondierten Strähnen im braunen Haar, Lipgloss auf dem Mund, grauer, zerrissener Jeans und Turnschuhen an den Beinen, auf dem Boden. Es galt, diesen heiklen Lebensabschnitt von Valentina zu begleiten, was ihm als Vater oft nicht leicht fiel.
Selbstvergessen wie einst in den ersten Lebensjahren beim Zerpflücken jeglicher Papierseiten, pflückte Valentina nun Kleidungstücke aus einem Haufen Klamotten, die auf dem Zimmerboden um sie herum verstreut lagen, und warf sie in die offene Tasche. Moritz musterte seine Tochter. Das schöne, weiche Gesicht mit dem geschwungenen Kussmund erinnerte zwangsläufig an Anita. Von sich selbst entdeckte er neben der Augenfarbe auch die eckige Form der Augenbrauen, die den seinen ähnelten und irgendwie mehr zu einem Jungen gepasst hätten.
Seine Kindheit und Jugend hatte Moritz in Waren an der Müritz verbracht. Die zahlreichen kulturellen Möglichkeiten in der Hauptstadt des vereinten Deutschlands empfand er immer noch als etwas Besonderes. Zerstreuungen in dieser Vielfalt standen damals, in der ostdeutschen Provinz der 70er Jahre, nicht an der Tagesordnung. Und ohnehin hatten seine Eltern mit drei Kindern bei Weitem nicht den Aufwand betreiben können, den Valentina heute als Einzelkind genoss. Seine Gedanken spulten die Jahrzehnte zurück, als wären es Minuten. Wenn er es sich genau überlegte, hatten ausnahmslos die beiden älteren Schwestern das Unterhaltungsprogramm bestimmt. Moritz war der Schüler, wenn eine der beiden die Lehrerin spielen wollte, Moritz stellte das Kind, wenn Vater-Mutter-Kind gewünscht war, Moritz mimte den todkranken Patienten, der von Ärztin und Krankenschwester verarztet werden musste. Es waren häufig die Statistenrollen, die ihm während der Spielgestaltung zufielen, so auch beim Dauerbrenner Gummihopse .
In Ermangelung eines zweiten, jüngeren Bruders, über den sie bestimmten konnten, spannten die Schwestern das Gummiband um einen Laternenpfahl, einen Mülleimer oder was auch immer sich auf der Straße anbot, und stellten ihn auf der anderen Seite in die Gummihopse. Während Beate und Konstanze dann, unter sich steigerndem Schwierigkeitsgrad, um die Wette hüpften, blieb Moritz als zweiter flexibler Pfahl stehen. Aktivität entwickelte Moritz, indem er die wichtige Aufgabe übernahm, am Müllkorb die Höhe zu verändern. Durch den nicht unerheblichen Größenunterschied zwischen kleinem Bruder und großen Schwestern stand Moritz in der letzten Stufe das Gummiband sprichwörtlich bis zum Hals. Seine Mutter war einmal entsetzt dazu gekommen, worauf als Maximum für zukünftige Spiele mit der Gummihopse Moritz’ Bauchnabel definiert wurde.
„Warum seufzt du denn, Papa?“
Valentina stand, die Augenbrauen fragend hochgezogen, fertig angezogen vor ihm. Die Tasche gepackt, ihr Kuschelkissen unter dem Arm und die nagelneuen Schlittschuhe über der Schulter, wartete sie darauf, dass es losging.
Moritz nahm die Reisetasche vom Boden und hängte sie sich quer vor den Bauch. „Alles in Ordnung, meine Kleine. Auf geht’s!“
Moritz öffnete den Kofferraum des Autos, um Valentinas Sieben Sachen einzuladen. In dem alten VW-Passat lagen bereits seine eigenen bejahrten Schlittschuhe, noch aus DDR-Fabrikation; er legte das zweite, nagelneue Paar seiner Tochter hinzu. Für die Fahrt von Mahlsdorf nach Friedrichshain einigten sie sich musikalisch auf Amy Winehouse .
Beim Eintreten in den schmalen Flur stolperten sie fast über den voll beladenen Wäscheständer, der nicht anders konnte, als im Weg zu stehen. Um die Besuche für Valentina möglichst komfortabel zu gestalten, beschränkte sich Moritz auf eine Schlafnische in dem halben Zimmer. Zuerst hatte er diesen halben Raum als Kleider- und Abstellkammer genutzt und Wohn- und Schlafzimmer auf die weiteren beiden Räume verteilt. Dies stellte sich jedoch schnell als unpraktisch heraus, da sich Valentina bald zu erwachsen fühlte, um mit im väterlichen Schlafzimmer zu nächtigen. Nun nahm Valentina an den Wochenenden und in den Ferien das Arbeitszimmer in Beschlag, ohne dass Moritz die festgelegte Zimmerzuordnung immer wieder aufs Neue tauschen musste.
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