Sie waren es, wenn auch notdürftig, aber das brachte der Anlass schließlich mit sich. Moritz trat nach Petra in den Raum, der normalerweise eine Art Materiallager beherbergte, und nun als Garderobe herhalten musste. Papierhandtücher und Toilettenpapierrollen türmten sich eilig zusammengeschoben in den Ecken des Raumes neben Stapeln von Kopierpapier. Leere Kartons verschiedenster Ausmaße drängten sich an halb gefüllte Getränkekisten. In Moritz’ Windschatten folgte Praktikant Lukas so dicht, dass Moritz jeden Moment einen Tritt in den Hacken erwartete und sich ängstlich umschaute. Was er sah, erheiterte ihn und vertrieb schlagartig die unberechtigte Sorge. Wie bei einem der Teletubbies ragte die Tonangel mit dem Mikro an der Spitze weit über Lukas Kopf hinaus, während der Praktikant auf der Stelle trat, um Moritz nicht in die Fersen zu treten.
Die Stimmung in der Umkleide pendelte zwischen aufgekratzt und hysterisch, und es roch, als wären bei Douglas sämtliche Flakons ausgelaufen. Moritz fürchtete um seinen Geruchssinn und das Aroma der bereitstehenden belegten Brötchen.
An diesem Abend starteten acht mutige Mädchen im Galaxy . Kim, die bereits diverse Male erfolglos angetreten war, versuchte dieses Mal, mit knusprig gebräunter Haut und roten Hairextensions im schulterlangen hellbraunen Haar zu punkten, was sie Moritz ohne Aufforderung bereitwillig vor laufender Kamera verriet. Für ihre 18 Jahre setzte sie ihren Körper erstaunlich offensiv und gern in Szene. Aufs Neue entpuppte sich Kim als unkompliziert, etwas vorlaut mit typischer Berliner Schnauze, und dennoch voller warmherziger Energie. Während Kim ohne Punkt und Komma drauflos plapperte, tuschelten im Hintergrund Judith und Melanie, die vom Sender auserkorenen Erzrivalinnen, und hielten dabei Händchen. Moritz machte eine Nahaufnahme von den zwei ineinandergelegten Mädchenhänden. Dabei mischte sich in die Schadenfreude über die Vereitelung der redaktionellen Pläne die unangenehme Vorahnung auf Aussprachen, wenn Stopske das Material auf den Tisch bekam.
Ein Zischen und Spritzen, und kurz darauf ein Aufschrei, rissen Moritz aus seinen Gedanken. Ein dünnes Mädchen mit dunklen Locken vergrub ihren Kopf heulend im Schoß. Sie saß gleich neben der Tür vor einem der provisorisch an die Wand gelehnten Spiegel. Die bloßen eckigen Schultern wurden von Weinkrämpfen geschüttelt. Bevor Moritz überhaupt wusste was los war, hockte Petra vor dem Häufchen Elend auf dem Boden und sprach sie teilnahmsvoll an. Der Blick und die energische Handbewegung, mit der Petra Moritz nebst Kamera heranwinkte, entlarvte sie als alles andere, als eine mitfühlende Betreuerin.
Die Tragödie stellte ein Fleck auf dem gelben Abendkleid des Mädchens aus Rostock dar, den eine andere Teilnehmerin beim Öffnen einer Dose Redbull angeblich absichtlich platziert hatte. Die Rostockerin hörte nicht auf zu schluchzen, während sie sich unablässig über die großen, dunklen Augen wischte und die damit aufgetragene Wimperntusche restlos verschmierte. Gegen die entstandene Bescherung im Gesicht der Kandidatin wirkte der Redbull-Fleck harmlos. Wiederholt von Heulkrämpfen unterbrochen, kamen die Sätze stockend wie bei einem Stotterer aus ihrem Mund:
„So … geh ich … hundertprozentig … nicht auf die Bühne. Ich sehe aus … wie eine verdammte Schlampe. Das sieht doch jeder. Das ist echt fies.“
Die Lampe in der einen, die Tongabel in der anderen Hand, trat Praktikant Lukas von einem Bein aufs andere. Er versuchte sein Bestes, die Situation zu entspannen. „Aus der Entfernung, vom Publikum aus, sieht den Fleck doch kein Schwein.“
Langsam hob das Mädchen ihren Kopf und der Tränenstrom versiegte: „Meinst du?“ Skeptisch betrachtete sie das Kleid.
Petra versetzte Lukas einen Schubs und drängte ihn damit näher an die Rostockerin, sodass das Mikro jetzt direkt über dem Kopf des Mädchens hing, bereit, den leisesten Schluchzer einzufangen. Geistesgegenwärtig ergriff Petra die Gunst der Stunde, Öl ins Feuer zu gießen: „Tja, aber wie drehen ja in erster Linie fürs Fernsehen und nicht für die paar Leute hier in der Disse, schon vergessen?“
Die Bemerkung verfehlte ihre Wirkung nicht. Wie ein Häufchen Elend sackte das Rehauge wieder in sich zusammen und die Tränen liefen erneut.
Die anderen Kandidatinnen ließen sich von dem Zwischenfall nicht stören. Eine lackierte ihre Fingernägel, die nächste zog sich den Lidstrich nach, Kim zog vorsichtig hautfarbene Strumpfhosen an den langen Beinen hoch und Judith und Melanie gingen die simplen Schrittkombinationen laut vor sich hin sprechend noch einmal durch.
„Haben wir doch schon was Feines im Kasten.“ Tatsächlich erwartete Petra noch ein Lob von Moritz. Selbstzufrieden über ihren Biss stand sie Beifall heischend vor ihm, sodass Moritz die Galle hochkam.
Um den bitteren Geschmack nicht runterzuschlucken, musste er ausspeien: „Ja, Petra, du bist die größte Journalistin, die die Welt je gesehen hat. Man könnte glatt meinen, du hast den Pressekodex erfunden.“
Einen immensen Aufwand betrieben alle Teilnehmerinnen beim Frisurenbau. Allein Porzellangesicht Judith, lediglich mit dunkelgrünem Slip und BH bekleidet, begnügte sich mit einer profanen Bürste, die sie durch den glatten Bob strich. „Ihr filmt doch aber nicht, oder?“ Mit einem skeptischen Seitenblick schaute sie in Richtung Kamera und hielt sich dabei schützend die Arme gekreuzt vor das Dekolleté.
Moritz hob sich die Kamera von der Schulter und stellte das Gerät neben sich auf den Boden. „Keine Angst, das kommt raus oder wir nehmen eine Großaufnahme nur bis zu den Schultern.“
Judith nickte beruhigt und verrieb einen Klecks Haar Gloss in den Handflächen. Dann schaute sie noch einmal prüfend in den Spiegel. Ihr exakt geschnittener Pagenschnitt, mit einem glänzenden, bis knapp über die Augenbrauen fallenden Pony, umrahmte ihre blassen, zarten Gesichtszüge.
Gegen 21 Uhr begann der erste Durchgang für die Teilnehmerinnen zur Wahl der Best Beauty Meck-Pomm in Abendmode. Zu Justin Timberlakes Song Señorita stelzten die Teenager auf absurd hohen Absätzen über die Bühne. Der hässliche Fleck auf dem gelben Kleid der rehäugigen Rostockerin tarnte sich unauffällig hinter einer blutroten Ansteckblume. Moritz hatte keine Ahnung, wo sie die altmodisch anmutende Filzblume noch aufgetrieben hatte, aber sie erfüllte ihren Zweck. Für eine Sekunde stellte er sich seine Tochter Valentina zwischen den Mädchen vor und schüttelte hastig den Kopf, um das Bild wieder zu verscheuchen. Kim trug ein rotes, knapp unter dem Po endendes Kleid, welches sich mit dem Rot-Ton der Haarverlängerungen gehörig biss.
Stephen Reizling moderierte die einzelnen Runden launig an. In Durchgang Nummer zwei durften die acht Beautys tanzen, singen, ein Gedicht rezitieren oder andere schlummernde Talente offenlegen. Das Ganze erinnerte Moritz an die vielen Schulaufführungen, die er als Vater schon erlebt hatte — mit dem feinen Unterschied, dass im Galaxy das geneigte Publikum nicht aus alles großartig findenden Eltern bestand. Erste anzügliche Zwischenrufe von betrunkenen Kerlen störten den Ablauf der Inszenierung. Kim turnte in ihrem engen Kleid über die provisorisch errichtete Bühne, und als sie plötzlich in die Hocke ging, dachte Moritz, der Kniefall sei Teil einer ausgefeilten Choreografie. Ein Irrtum, wie sich schnell zeigte. Mit tastenden Händen kroch Kim auf allen Vieren über den Boden und rief dabei verzweifelt Stephen Reizling zu, er und alle anderen mögen stehen bleiben und bloß keine weiteren Mädchen auf die Bühne lassen.
„Männo! Die Dinger war’n schweineteuer. Wehe, einer latscht mir uff meine Linsen!“
Profimäßig reagierte der Moderator auf die unerwartete Situation, indem er den DJ um eine Überbrückung in Form einer Tanzrunde bat.
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