Für Warnemünde hatte Stopske Moritz, Petra und Lukas, einen weiteren Praktikanten bei United Media , eingeteilt. Seit auch in den Medien gespart werden musste, existierten beim Privatfernsehen sogenannte Ein-Mann-Teams, die, nach einer Kurzeinweisung und mit leichter Digitalkamera im Gepäck, die inhaltliche als auch technische Aufnahme zu schultern hatten. Die lange zurückliegende Ausbildung als Fotograf half Moritz bei dieser Aufgabe; ohne jedoch seine Abneigung gegen diese drastische Vermischung zweier völlig unterschiedlicher Berufsgruppen zu schmälern.
Bereits am frühen Nachmittag machten sich die drei auf den Weg von Berlin nach Warnemünde. Moritz hockte denkbar schlecht gelaunt in einem dicken Norweger-Pullover hinter dem Steuer des Passats, den mindestens 12-stündigen Arbeitstag wie einen steinigen Berg vor sich. Das eigentliche Material für die Folge würden sie in den Stunden vor und nach der Wahl sammeln. Der offizielle Teil des Schaulaufens warf eher Füllmaterial für schöne Bilder zwischen den oft sehr hässlichen und damit ergiebigen Szenen hinter der Bühne ab.
Während der Fahrt plapperte Petra ununterbrochen, obwohl ihr niemand zuhörte. Bislang hatte sie weder Lukas noch Moritz direkt angesprochen, sodass Ignorieren leicht fiel. „Moritz, was ist jetzt mit Judith und Melanie? Soll ich da was fallen lassen in Richtung Ex-Freund, der was Schlüpfriges über eine von den beiden in Umlauf gebracht hat?“
Moritz Interesse, die beiden Mädchen gegeneinander aufzuwiegeln, ging gegen null. „Überlass’ das bitte mir. Wir warten ab und entscheiden situationsabhängig, in Ordnung?“ Schon aus reiner Überzeugung kam diese Art der redaktionellen Aufbereitung nicht infrage.
Praktikant 2 schlief auf der Rückbank und bekam von dem Austausch nichts mit. Petra verstummte und Moritz konnte sein Gehör wieder ausschließlich dem mindestens für eine Fahrt nach Schweden ausreichenden Vorrat an CDs widmen. Wenn es gar nicht anders ging, beschloss Moritz mit offenen Karten zu spielen und Judith und Melanie ins Vertrauen zu ziehen: Tatsachen auf den Tisch und die Absichten des Senders offenbaren.
Nach kurzer Funkstille meldete sich Petra zurück. „Darf ich diesmal beim Schnitt dabei sein?“
Nachdem sie die Frage ein zweites Mal wiederholte, quetschte Moritz eine ausweichende Antwort heraus: „Mal sehen.“
„Ich fände es superspannend, diesen Prozess zu verfolgen … “
Geräuschvoll kämpfte die altersschwache Lüftung des Passats gegen das Beschlagen der Scheiben. Moritz drehte den Lüftungsregler weiter auf und erhöhte die Lautstärke des Radios dementsprechend. Michael Jacksons Rock with you vom Album Of the Wall ließ Petra innehalten, um mitzusummen. Verwundert schickte Moritz einen Seitenblick auf den Beifahrersitz. Dann fiel es ihm wieder ein: Seit der King of Pop tot war, kannten selbst die 12-jährigen plötzlich seine frühen Songs.
Am würfelartigen Gebäudekomplex der Disko, etwas abseits der Warnemünder Strandpromenade, warb ein Banner mit der Aufschrift Best Beauty Wahl Meckpomm — heute im Galaxy um die Gunst der Jugend im Einzugsgebiet. Auf dem riesenhaften Parkplatz standen verstreut einige wenige Fahrzeuge, die komplett eingeschneit unter einer knuffig-weißen Haube steckten. Moritz parkte seinen Wagen so dicht wie möglich am Hintereingang des Galaxy. Als er den Zündschlüssel abzog, kam ihnen der Betreiber des Tanzpalastes händereibend, mit einem zufriedenen Grinsen zwischen den Ohren, entgegen. Die beiden Praktikanten hatten sich schon aus dem Auto geschält und standen nun frierend daneben. Aus der Fahrertür entstiegen und von kalten Windstößen begrüßt, hängte sich Moritz rasch den Dufflecoat über die Schultern. Eilig versuchte er, wenigstens die obersten beiden ovalen Hornknöpfe des Mantels durch die Schlitze zu schieben.
„Moin, Moin. Ich bin der Herr Reizling, wir haben telefoniert. Der Laden wird gerammelt voll. War ein guter Deal, Jungs, das spür ich!“
Wie der Mann das kurz vor 18 Uhr bereits spüren konnte, blieb Moritz ein Rätsel. „Freut mich, Herr Reizling. Moritz Montag.“
Während alle, die die letzten Stunden im warmen Auto verbracht hatten, vor Kälte schlotterten, stand Reizling unbeeindruckt von den Minusgraden lediglich in Stoffhose und T-Shirt vor ihnen.
Petra konnte es nicht abwarten und stellte sich alleine vor: „Ich bin die Petra und das ist unser Praktikant Lukas.“ Charmant lächelnd bot sie Reizling ihre Hand nebst Wange zur Begrüßung dar.
Der fackelte nicht lange, nahm die Hand und zog Petra an sich heran, um ihr das in Aussicht gestellte Begrüßungsküsschen auf die Wange zu schmatzen. „Kannst übrigens Stephen zu mir sagen. Können wir nachher mit einem Sektchen begießen.“
Praktikant Lukas und Moritz schauten sich an und beschlossen in stillem Übereinkommen, Petra nicht auszubremsen. Stattdessen luden sie die Kamera, den Lichtkoffer, die Tonangel und die vollgestopften Tüten mit Werbepräsenten des Senders aus dem Kofferraum und trugen das Material ins Galaxy .
Zeit für Moritz, über den Verlauf des weiteren Abends zu spekulieren: Wenn es gut lief, lenkte Mister Galaxy , wie Moritz den Betreiber der Diskothek kurzerhand taufte, Petra in ihrem Eifer ab, Zwietracht zwischen Melanie und Judith zu säen.
Im hellen Neonlicht, und ohne vergnügungssüchtige Gäste, wirkte der Saal der Diskothek recht trostlos; eine Handvoll Angestellter räumte noch Tische beiseite, leerte die Papierkörbe und dekorierte die Räumlichkeiten mit Glittergirlanden und anderem Firlefanz. An der langen Bar hockten drei einsame Menschen wie gemietete Pappfiguren, die ihnen als lokale Prominenz vorgestellt wurden. Den Namen des Radiomoderators hatte Moritz schon gehört.
„Gib doch mal drei Sekt für die Leute vom Fernsehen rüber“ , forderte Reizling den Barkeeper auf, „dann kann ich mit der jungen Dame auch aufs du anstoßen.“ Es folgte ein Augenzwinkern in Richtung Petra.
Moritz überlegte kurz, ob er sich schon zu so früher Stunde als Spielverderber zu erkennen geben wollte, beantwortete dies für sich mit einem Ja und korrigierte die Sekt-Bestellung in eine Flasche Pepsi für sich. Moritz liebte den feinen Zimtgeschmack, den er bislang bei keiner anderen Colasorte gefunden hatte.
Optimistisch dreinblickend stieß jeder mit jedem an. Stephen Reizling und Petra gaben sich Küsschen, diesmal auf beide Wangen. Lukas und Moritz guckten mit großen Augen amüsiert zu. Na, bitte — die plumpen Avancen von Mister Galaxy fruchteten, frohlockte Moritz noch einmal und fand den Hoffnungsschimmer, der ihn beim Reintragen ihrer Ausrüstung ereilt hatte, bestätigt. So kam die kecke Petra nicht auf andere dumme Gedanken und schadete höchstens sich selbst.
Nach einem Rundgang durch die Diskothek, Reizling hatte keine Mühe gescheut und eine Art Podest aufgetrieben, auf dem in etlichen Stunden eine Best Beauty für das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern stehen würde, wagte sich Moritz, das Begrüßungszeremoniell zu unterbrechen: „Hm, sehr schön, wirklich alles wunderbar vorbereitet. Wir bräuchten bloß noch ein, zwei Stunden mit den Kandidatinnen, bevor der Rummel losgeht. Sind schon alle vollständig in der Garderobe versammelt?“
Das brachte Stephen Reizling kurzzeitig aus dem Konzept, aber er fing sich rasch: „Was immer ihr Wunsch ist, Meister. Ich führe euch sofort hin. Auf dem Weg zeige ich dann gleich den Hintereingang raus zum Hof, falls einer später raus an die Luft muss, zum Kotzen oder so.“
Petra klopfte zweimal kurz mit den Fingerknöcheln an die Tür der Umkleide und vergewisserte sich mit einem Blick, ob die Heranwachsenden angezogen waren: „Hi, Beautys! Wir wollen euch ein wenig über die Schulter schauen.“
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