Um meiner Arbeit eine neue Richtung zu geben und für die neue Zeit etwas zu lernen, nehme ich Kontakte zu einem Kindergarten in Braunschweig auf. Dort möchte ich unbedingt einen Tag lang hospitieren. Sehen, wie es meine Kolleginnen dort so machen und platze fast vor Neugier und Tatendrang. Das Wetter ist ganz gut und ich fahre das erste Mal in meinem Leben mit der Eisenbahn über Magdeburg und Helmstedt nach Braunschweig. Ich will mit neuem Schwung und tollen Ideen meine Arbeit modern und unsozialistisch fortführen. Das nehme ich mir vor und mit freudiger Erwartung packe ich mir im Zugabteil einen Schokoriegel aus. Als der Zug plötzlich langsamer fährt, stehe ich auf und schaue aus dem Fenster. Draußen sehe ich die Reste des Grenzübergangs Helmstedt. Ich habe noch nie direkt und hautnah so einen Grenzübergang aus der Nähe gesehen, da ich noch niemals so dicht dran war.
Die Wachtürme und Stacheldrahtreste und Betonklötze und die verlassenen Häuschen, all das jagt mir eine Gänsehaut über den Rücken. Was sich hier abspielte, wußte ich nur vom Hörensagen. Am schlimmsten sollen die unfreundlichen, meist fetten Weiber gewesen sein, die ihre Arbeit sichtlich genossen und sie ausnutzten, um die westlichen Ein- und Ausreisenden zu provozieren und zu schikanieren. So, jedenfalls, sagte man es allgemein. Der Zug rollt weiter Richtung Braunschweig und ich packe den restlichen Schokoriegel ein. Mir ist der Appetit vergangen, und ich verbringe den Rest der Fahrt in einer beklemmenden Stimmung.
Irgendwann blicke ich wieder aus dem Fenster, denn ich möchte endlich sehen, wo nun eigentlich der Westen anfängt. Ich drücke mir die Nase an der Scheibe platt und erwarte nun mit Pauken und Trompeten und vielen grellbunten Werbeplakaten die schillernde westliche Welt. Aber nichts. Die Bäume und Wiesen und Felder sehen genauso grün aus wie bei uns. Komisch. Dann sehe ich eine kleine Brücke. An ihren Seiten links und rechts hängen Blumenkästen am Geländer mit vielen roten Hängegeranien. Ein schönes Bild. Auch die Straßen, die ich dann sehe, sind so breit, so sauber, so ohne Löcher. Und die Häuserfassaden sind so hübsch, als ob der Maler gerade sein neues Bild fertig gemalt hätte. Ein Bauernhaus schöner als das andere. Ich bin tief berührt und sauge die neuen Eindrücke auf. Freude macht sich wieder bei mir breit und ich hüpfe wie ein kleines Mädchen in Braunschweig aus dem Zug. Angekommen.
Ich werde abgeholt und meine zwei westlichen Kolleginnen erkennen mich gleich und winken. Wir fahren mit dem Auto nicht sehr lange und ich schwöre mir, daß ich wiederkomme und mir dann in Ruhe Braunschweig mit seiner alten Innenstadt ansehen werde. Hier ist alles so spannend für mich, daß mein Herz laut klopft.
Aber die Neugierde ist auf beiden Seiten groß. Ich werde herumgeführt und finde alles recht schön und normal. Eben ein Kindergarten.
„Warum stehen bei euch im Haus alle Türen zu den Gruppenräumen sperrangelweit auf?“ ,frage ich erstaunt.
„Weil die Kinder hier selbst entscheiden können, wo sie hingehen und was sie mitmachen möchten.“
Aha, die Kinder dürfen das selbst entscheiden und, wenn sie keinen Bock haben, gehen sie zum Spielen auf den Spielplatz. Kein Lerndruck, kein Muß. Das ist ja toll. So wie im echten Leben, alles locker und entspannt. Aber wie zum Teufel haben dann die Erzieherinnen noch den Überblick, denn die ewigen Drückeberger können sich ungehindert dem Spielen und Raufen hingeben, ohne auch nur ein klitzekleines bißchen auf die Schule vorbereitet zu werden. Wie kann man da feststellen, wo der persönliche Entwicklungsstand der Kinder ist und wie will man die Kinder einzeln fördern, die es nötig haben. Schwachstellen entdecken, Hilfeleistung geben, lenken und leiten, motivieren und begeistern. So ganz verstehe ich das Prinzip hier nicht und werde nicht schlau daraus. Wie auch immer.
Zum Schluß des Tages lade ich meine neuen Kolleginnen, die ich aufgeschlossen und irre nett finde, zu uns in den Dorfkindergarten an der schönen Havel ein. Man sagt nicht nein. Super!
Dann drei Wochen später.
Mit einem Minibus reisen sie an, meine frisch eroberten Arbeitskolleginnen aus dem Westen. Auch sie sind neugierig. Es kommen vier Erzieherinnen und zwei Praktikantinnen. Über die vielen Wiesen und Felder sind sie voll des Lobes, aber die Landstraßen ... solche Löcher.
Wir zeigen ihnen unser Reich und mit viel Stolz auch den kleinen Garten der Kinder und die Minigartengeräte im Geräteschuppen. Weil das Wetter so schön ist, singen und tanzen die Kinder unseren Gästen auf der Wiese etwas vor. Dann gibt es für alle selbstgebackenen Kuchen und Westkaffee, den unser Besuch mitgebracht hat.
Die Frauen werden immer lockerer und sehen sich das Spiel- und Lernmaterial, sowie die kleinen Musikinstrumente an. Gar nicht so schlecht, die Ossis.
Als dann die Kinder schlafen, sitzen wir alle fachsimpelnd um einen großen Tisch und die Aufregung ist auf beiden Seiten groß. Die Frauen zeigen sich sehr interessiert und sind voll des Lobes. Dann treten sie die Heimreise an und sagen mir und meinen Kolleginnen hier beim Händeschütteln, daß sie das alles so nicht erwartet hatten.
Sie wünschen uns alles Gute und drücken uns an ihr Herz. Ein schöner Tag für alle, mit neuen Erfahrung auf beiden Seiten, geht zu Ende.
Es dauert wenige Wochen und die Gemeinde muß die Kosten für den Kindergarten selber tragen. Im Klartext heißt das: Unsere Praktikantin verliert ihren Job und die Eltern müssen für ihre Kinder tiefer in die Tasche greifen. Viel tiefer. 50 Pfennig für Essen, 30 Pfennig für Milch und 2 Mark für sonstiges mit dem Namen Kulturbeitrag war gestern. Ende, Sense, nix Sozialismus.
Bruno hat sich ein langes Wochenende freigenommen. Er muß unbedingt mit seinem Angelfreund Paul nach Hamburg, auf die Reeperbahn natürlich. Es macht mir nichts aus und ich freue mich auf ein ruhiges Wochenende.
In unserer Kleinstadt stehen viele Wohnungen leer, sie wurden Hals über Kopf von ihren Bewohnern verlassen. Einige Familien sind unüberlegt und kopflos bei der Grenzöffnung abgehauen. Auch die Kinder meiner Kollegin Elli sind über Ungarn als eine der Ersten nach Bayern gefahren. Gerade als ich daran denke, entdecke ich sie, zwischen den Regalen im Supermarkt. Sie, meine alte, liebe Kollegin Elli.
„Sag mal, eben habe ich an dich gedacht und dann treffe ich dich nach so langer Zeit“, sage ich und falle ihr um den Hals.
Elli freut sich und drückt mich an ihr Herz.
„Was ist denn mit dir los, du siehst gar nicht gut aus. Elli, bist du krank? “
Da bricht es aus ihr heraus, und sie hält sich mit ihren Händen ihr kleines Gesichtchen zu und heult und schluchzt in ihr Taschentuch. Da habe ich wohl voll ins Schwarze getroffen. Auch das noch. Elli erzählt mir, daß ihre einzige Tochter mit dem Ehemann und dem Enkelkind jetzt fest in Bayern wohnt. Sie haben beide eine Arbeit gefunden. Nein, sie freut sich nicht, denn sie vermißt sie alle sehr und hält diesen Zustand nicht mehr aus. Kann nicht mehr essen, nur noch heulen. Ich nehme sie in die Arme.
21„Elli, wart es ab, bald haben wir auch hier die gleiche Währung und dann kommen sie bestimmt zurück.“
Elli nickt und hört gar nicht auf zu nicken, und ich schenke ihr eine Packung Taschentücher, die nach 4711 duften.
Am Sonntag abend ist Bruno wieder da und er versprüht gute Laune. Hatte wohl ein schönes Wochenende in Hamburg. Von mir aus. Es kümmert mich wenig. Hauptsache, es ist Ruhe im trauten Heim.
Dann kam eine Nachricht für uns aus Holland. Es gibt in Westberlin einen Bruder namens Eberhard. Der wollte uns in seiner unendlichen Freude über die Grenzöffnung, die er im Nachthemd und in Hausschuhen erlebte, einladen nach Westberlin.
Er will uns seine Stadt zeigen und fragt, ob wir dazu Lust hätten? Wir hatten, und ob!
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