„Ganz ruhig Sonnenschein. Ich habe dir doch versprochen mich zu melden, sobald es was Neues gibt. Unserer spezieller Freund hat heut‘ Nacht wieder sein Unwesen getrieben. In einer kleinen Wohnung im Ostviertel der Stadt wurde wieder eine Männerleiche gefunden. Durchtrennte Kehle“.
„Wie kommt ihr darauf, dass er das war?“.
„Ganz einfach: Schau‘ dir das Bild an, was ich dir gesendet habe“.
Wortlos beendete Liebig das Telefonat und öffnete das übersandte Bild auf seinem Handy. Seine Hände wurden schlagartig schweißnass.
Vor seinen Augen zeichnete sich ein düsteres Bild ab: Ein korpulenter Mann lag in unnatürlicher Weise verkrümmt auf dem Sofa. Das Blut aus der Wunde an der Kehle hatte alles in ein durchdringendes Scharlachrot getränkt. Dann fiel sein Blick auf die Wand. „Ohja, das ist eindeutig unser Freund“, murmelte er leise vor sich hin.
„Mene mene tekel u-pharsin“
Unter jedem einzelnen der Buchstaben verlief eine getrocknete Blutspur. Die weiße Wand, auf der sich die mysteriösen Worte abzeichneten, tat das Übrige und sorgte für den richtigen Kontrast. Hastig tippte er auf seinem Handy und hielt es sich wieder ans Ohr. Er hörte seinen eigenen Herzschlag, tief im Ohr. So als ob sein Herz nicht in seiner Brust, sondern eine Etage weiter oben angestammt wäre.
„Das passt. Das ist er. Aber was soll dieses Kauderwelsch bedeuten?“.
„Ich hab’s einfach mal ins Blaue hinein gegooglet. Mene mene tekel u-phrasin ist ein Referenz auf eine Erzählung im Alten Testament. Aber jetzt pass auf: Viele Jahrhunderte später verfasste Heinrich Heine eine Ballade über besagte Erzählung. Dieser Verrückte hat ein verdammtes Faible für Balladen. Die Erzählung handelt davon, wie der blasphemische König Belsazar, König von Babylon, von Gott bestraft wird, nachdem er Gott verhöhnt, indem er aus einem Kelch trinkt, den sein Vater Nebukadnezar II. aus einem Tempel in Jerusalem geraub...“.
„Ja und weiter? Wir sind hier nicht in irgendeinem beschissenen Hollywood-Blockbuster. Spar‘ dir die Spannung und komm auf den Punkt“, unterbrach er seinen Kollegen ungeduldig.
„Jaja schon gut, Moment. Ich zitiere:
„Und sieh! Und sieh! An weißer Wand
Da kam’s hervor wie von Menschenhand;
Und schrieb, und schrieb an weißer Wand
Buchstaben von Feuer, und schrieb und schwand.“
„Und das Kauderwelsch sind dann die Worte, die der biblischen Erzählung nach geschrieben wurden. Ende der Geschichte ist, dass König Belsazar von seinen Knechten umgebracht wird“.
„Dann sag mir jetzt bitte, dass du auch schon weißt, was der Schwachsinn übersetzt bedeutet“.
„Diese Lösung, mein wissbegieriger Freund, liefert die gute alte Bibel gleich mit: Es bedeutet wohl so viel wie: Deine Tage sind gezählt, du wurdest gewogen und für zu leicht befunden, und dein Königreich wird zerteilt. Toni hat auch schon wieder seine qualifizierte Meinung kundgetan“, sagte er, nicht ohne das Wort “qualifizierte“ in die Länge zu ziehen und ihm somit eine mehr als ironische Note zu versetzen.
„Er ist skrupellos, ein selbstgerechter Narzisst auf Kreuzzug gegen das Leben im Namen einer zweifelhaften Moral. Silvester, Erlkönig und Belsazar, wohl alles Allegorien. Der Gerichtsmediziner hat auch bestätigt, dass das erste Opfer um Mitternacht, wie in der Silvester-Ballade, getötet wurde. Das dritte Opfer hat dem Kerl wahrscheinlich irgendetwas gestohlen. Etwas, das ihn sehr erzürnt hat, wie König Nebukadnezar II., Vater des Belsazar. Nun ja und wir vermuten, dass das zweite Opfer vor der drohenden Gefahr flüchten wollte und deswegen am Flughafen gefunden wurde, in der Tasche ein One-Way-Ticket nach Neuseeland. Das Opfer war nicht willig, also holte er es sich eben mit Gewalt, wie der Erlkönig.“
„Kann gut sein … Mein Kopf dröhnt. Nach deinem Überfall zur unchristlichen Zeit brauch‘ ich jetzt erst einmal eine Dusche und einen Kaffee. Ich melde mich später. Ach ja, und danke“.
Liebig ließ seinen Kopf zurück ins Kopfkissen fallen, streckte seine Arme im rechten Winkel vom Körper ab und blickte an die Schlafzimmerdecke. Ein grober Riss teilte sie in zwei. Vielleicht sollte er auch dies noch als mögliche Todesursache auf seiner langen Liste vermerken: Tod durch Deckeneinsturz. Ich lebe wirklich in einem Drecksloch …
Die heiße Dusche ließ seine Lebensgeister ihren Dienst wieder aufnehmen. Liebig schritt im Bademantel in die kleine Küche des Appartements und sah aus dem Fenster in die noch von Dunkelheit gehüllte Außenwelt. Außenwelt . Diesen kreativen Namen hatte er der Welt außerhalb seiner Wohnung gegeben, als er diese für Wochen nicht mehr verließ. Sie erschien ihm zu dieser Zeit als feindliches Territorium, auf dem bösgesonnene Kräfte auf ihn lauerten. Er musste lachen: Diese irreale Angstneurose war mittlerweile in eine eigentlich begründete Angst mutiert und doch verlässt er zu jederzeit seine sichere Burg. Das war das beeindruckende Werk von Hoffmann gewesen. Hoffmann zeigte ihm, wie er die Oberhand über seine Ängste gewinnt und die Ketten der Depressionen sprengt. Ein nicht geringer Teil der Therapie hatte auf hypnotischen Elementen basiert, Hoffmanns Passion.
Der Teekessel auf dem Herd pfiff. Just in diesem Moment mischte sich ein zweiter Ton unter das des pfeifendes Teekessels: das der Türklingel. Und derjenige, der klingelte, machte mit den kurz getakteten Klingelstößen keinen Hehl aus der Dringlichkeit seines Besuches. Liebig ließ den Teekessel weiter pfeifen, lief aus der Küche durch den schmalen Flur und spähte durch den Türspion. Nicht auch das jetzt noch. Er drückte die Klinke herunter und öffnete langsam die Tür. Der Anblick war ihm sehr vertraut.
„Du mieses Schwein, spionierst du uns jetzt schon nachts nach. Welch krankes Hirn kommt auf solch durchgedrehte Ideen?“, schrie die Frau und schlug ihm mit beiden Händen gegen die Brust. Ihre Augen waren verweint und die Haare zerzaust. Das hingegen kam Liebig wenig vertraut vor.
Entgeistert blickte er sie an. „Wovon redest du, Sarah?“
„Spar‘ dir die Mühe. Ich habe die Schuhabdrücke im Schnee gesehen. Und gestern waren die noch nicht da. Du schleichst nachts bei uns ums Haus! Dass du dich nicht vor deiner Tochter schämst!“
„Sarah … Ich weiß wirklich nicht, wovon du sprichst. Ich war gestern Abend …“ stockte er. Ihn durchfuhr ein Schauer, als ob unzählige Nadelstiche seine Haut traktieren würden. Dieses Schwein. Dass er so weit geht. Nach einem kurzen Moment hatte er sich wieder gesammelt.
„Sarah, pass auf. Ich schwöre dir, dass ich gestern Abend zu Hause war und meine Wohnung nicht mehr verlassen habe“. Er blickte ihr tief in die Augen, jedoch kratze er damit nur an der Oberfläche. Der Schutzwall, den sie um sich errichtet hatte, erlaubte kein Durchbrechen. Zwei Tränen rann über ihre Wange. Er konnte erkennen, dass ihr Gehirn arbeitete, versuchte den Wahrheitsgehalt seiner Aussage herauszufiltern.
„Ich glaub‘ dir kein Wort. Wehe, ich sehe dich noch einmal ums Haus schleichen. Dann wirst du deine Tochter nie wieder sehen“. Eigentlich sprach Sarah seit ihrer Scheidung über ihre Tochter immer nur im Vornamen. Sie sagte stets “Lisa“, versuchte tunlichst den Ausdruck “Tochter“ zu vermeiden. Als versuche sie zu verdrängen, dass Lisa unser gemeinsames Fleisch und Blut ist . Doch nun brach sie mit dieser Regel, jedoch nur, weil sie ihm Angst machen wollte.
Sarah machte kehrt und ging schnellen Schrittes und klackernden Absätzen den Flur hinunter. Liebig wusste, es würde keinen Sinn machen ihr nachzulaufen. Er schloss die Tür wieder, lehnte sich mit dem Rücken gegen diese und atmete tief durch.
Dieses Schwein. Das kann nur er gewesen sein. Urgewaltiger Hass stieg in ihm auf. Doch Bezugspunkt war nicht der Rabe. Er war es. Er war schuld, dass der Typ nachts um sein Haus schleicht. Ich habe das zu verantworten. Ich alleine. Unter die wütende Fratze des Hasses mischte sich noch ein weiteres Gefühl. Ohnmacht. Sie drang durch alle Poren und legte sich wie ein erstickender Schleier um ihn. Ich muss irgendetwas machen. Ich kann nicht nur bloß da sitzen und auf mein Ende warten.
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