„Dr. Hoffmann“. Liebig erhob sich vom Ledersessel und reichte dem in die Jahre gekommenen Mann die Hand. Er trug eine beige Cordhose, darüber einen grauen Kaschmirpullover, an dessen Ausschnitt ein ebenfalls beiger Hemdkragen herausragte. Das eingefallene Gesicht des Doktors lag unter einer dicken Hornbrille. Schütteres, graues Haar setzte unregelmäßig an der hohen Stirn an. Allerdings empfand Liebig Hoffmanns Erscheinung im Geringsten als mitleidserregendes Altersgebrechen. Stets gut gekleidet und die qualmende Pfeife aus dem weißen Bart herausragend, du hast dich wirklich nicht verändert, alter Freund . Liebig erinnerte sich gerne daran, wie Hoffmann sich über die Flut an Rauchverboten echauffierte. Und dies tut er nicht mit der Attitüde eines kleinen Kindes, dem die Mutter das Benutzen seines Lieblingsspielzeuges untersagt, sondern souverän mit dem unerschütterlichen Glauben an die Freiheitsrechte. Auch wenn es hier und da sicherlich etwas überspitzt ist.
Hofmann galt als Koryphäe in seinem Job. Auf dem Gebiet der Psychotherapie sagte man ihm Wunderkräfte nach. Man munkelte, dass ihm Gastauftritte als Redner bei großen Unternehmen fette Honorare bescherten. Dies und das Privileg, sich Mitglied einer mehr als wohlhabenden Familie nennen zu können, reichte um diesen bescheidenen Lebensstil zu finanzieren, dachte sich Liebig, als er sich in dem gemütlich eingerichteten Kaminzimmer umsah. Ich habe definitiv die falsche Berufswahl getroffen
„Wir haben uns lange nicht mehr gesehen, Andreas“.
„Nichts für ungut, aber nicht lang genug“.
„Wie wahr“. Seine starke, aber paradoxerweise doch sanfte Stimme war für die eines Psychologen prädestiniert. Er könnte behaupten, die Sonne drehe sich um die Erde, und ich würde es glauben. Würde es glauben wollen …
Hoffman nahm im Lederstuhl gegenüber Liebig Platz und überschlug die langen Beine. „Wie verläuft deine Genesung?“.
„Bestens, bald habe ich die Chemo hinter mir. Ich meine, ich spüre natürlich trotzdem noch meine körperliche Schwächung. Aber ansonsten geht es mir physisch gut“.
Hoffmann hatte sein Kinn auf der Faust abgelegt und nickte. „Ich hoffe das Beste für dich, Andreas … du hast mir geschrieben, dass dich alte Geister heimsuchen. Verständlich: deine Familie lässt dich nicht los. Das soll sie auch nicht“.
„Es holt mich immer wieder ein, mal mehr und mal weniger“. Liebig verleumdete den wahren Urheber seiner unruhigen Nächte. „Es ist ein innerer Konflikt. Ich möchte das aus meinem Kopf haben, zumindest besonnen damit umgehen können“. Das hingegen ist die Wahrheit .
„So einfach ist das nicht, das weißt du. Es ist ein steiniger, arbeitsreicher Weg, der dich niemals so ganz zu deinem Ziel führen wird. Entscheidend aber ist es sich dem zu stellen, nicht davonzulaufen. Bist du denn auch bereit?“.
Es war stets dasselbe: jedes einzelne Wort Hoffmanns schien die universelle Wahrheit zu sein. Liebig merkte, wie Hoffmann ihn wieder in seinen Bann zog. Der Mann hat irgendetwas Besonderes, dachte er, etwas das seine Autorität in Frage zu stellen verbietet. Die sanfte und doch bestimmte Sprachmelodie eines Sängers, das vertrauenswürdige Aussehen eines Mannes, dem du ohne zu zögern deine Finanzen anvertrauen würdest, die warmherzige Körpersprache von Mutter Theresa und den scharfsinnigen Intellekt eines Genies. Eine sehr überzeugende Komposition . Er schaffte es irgendwas in ihm zu wecken, das ihn in sorgloser Geborgenheit wog.
„Ja, das bin ich. Ich bin bereit“.
„Nun gut, dann freue ich mich, dich bei unseren Gesprächsrunden wieder begrüßen zu dürfen“. Hoffmann breitete die Arme wie zum Segen aus, jedoch ohne zu lächeln. „Morgen Abend, selber Ort, selbe Zeit. Denke daran: Wenn du in die Seelen der Anderen schaust, wird sich auch der Blick für dich selbst schärfen. Ich denke, es sollte ausreichen, wenn wir die Gruppentherapie fortsetzen. Im Zweifel werden wir dann Einzelstunden abhalten“.
Und er trägt etwas Rätselhaftes in sich. Vielleicht ist das der Grund für seine Anziehungskraft. Er ist der perfekte Menschenfänger …
„Gut, das hört sich vernünftig an. Ich will jetzt nicht noch mehr Ihrer kostbaren Zeit beanspruchen“. Liebig stand auf und streckte seine Hand aus. Von der Gruppentherapie hielt er wenig, doch es gab auch noch andere Gründe ihr beizuwohnen.
Hoffmann ergriff die Hand und drückte kräftig zu „Standhaftigkeit ist eine Tugend, mein Freund. Wir werden dich schon wieder geradebiegen“. Ein Lächeln glitt über Hoffmanns Lippen, während er Liebig hypnotisierend ansah.
Die Hausdame brachte Liebig zur Tür. Als er den Weg zur Straße herunterschlenderte, war er erleichtert diesen Schritt gewagt zu haben.
Ich sehe dich, ich sehe alles.
Viele meiner Vertragspartner versuchen sich ihrer Schuldtilgung zu entziehen, aber das liegt nun einmal in der Natur des Menschen. Im Angesicht erschütternder Todesangst offenbart ein jeder sein wahres Gesicht, lässt die Maske aus gesellschaftlichen Konventionen fallen, wird triebgesteuert und ist zu allem bereit. Das ist der Moment, für den ich gewappnet sein muss. Jedoch bin ich ein Meister effektiver Vorkehrungen. Der Schachspieler nennt es Spieß. Ich stelle den König Schach und bin in selber Situation fähig die Dame zu schlagen. Ein unausweichliches Dilemma für das Gegenüber …
Der Tag ist wieder einmal der Nacht gewichen. Sie ist mein Verbündeter, umschlingt mich, nimmt mich in sich auf, bis ich mit ihr konturenlos verschmelze. Ich steige über den kleinen Jägerzaun hinüber in den Garten und wate durch den tiefen Schnee. Im Haus sind alle Zimmer hell erleuchtet. In der Küche sitzen zwei Personen und essen zu Abend. Ich kann sie sehen, doch sie vermögen es nicht aus dem hellerleuchteten Raum herauszublicken und die Gefahr zu erspähen. So ist es immer. Die Menschen fühlen sich im Lichte sicher, doch in Dunkelheit werden sie von existenzieller Angst ergriffen. Aber: Wo sind sie für ihre Gegner unsichtbar? Im Lichte? Dass ich nicht lache. Ein gefährlicher Irrglaube.
Die beiden lachen herzhaft und die Frau tätschelt sanftmütig den Kopf des kleinen Mädchens. Ja, ihre Blutlinie ist unverkennbar dieselbe. Sie sind beide hübsch. Sehr hübsch. Aber das wird sie im Zweifel nicht bewahren. Vanitas vanitatum et omnia vanitas… Nichts ist vergänglicher als die Schönheit. Zwar weiß ich die Schönheit zu schätzen, allerdings verzehre ich mich nicht nach ihr. Und schon gar nicht nach Körperlichkeit. Nichts als ein niederer menschlicher Trieb, der Fleisch und Geist schwach macht. Von derartigem habe ich mich schon vor langer Zeit freigemacht.
Ob er schon Pläne geschmiedet hat, mir zu entkommen? Müßig darüber zu spekulieren. Letztendlich wird er meinen Fängen nicht entweichen können. Ich habe zu lange auf ihn gewartet.
Für heute habe ich genug gesehen. Ich schleiche vom Grundstück, übersteige den Zaun und mache mich auf den Weg zu meinem heutigen Termin. Tugendhaftigkeit ist dieser Tag rar gesät … Wir leben in wahrlich schlechten Zeiten.
Schrilles Läuten. Schlaftrunken schlug Liebig nach dem Wecker. Nach einer weiteren unruhigen Nacht wollte er einfach noch nicht Morpheus‘ Armen entgleiten. Doch der gellende Lärm wollte nicht abklingen. Erst dann sah er, dass ihn nicht der Wecker, sondern sein läutendes Handy aus dem Schlaf gerissen hatte. Er nahm das Handy zur Hand.
„Wer da?“, säuselte er gequält ins Handy.
„Schau aufs Display, du Idiot“.
Ein Moment der Stille. „Hm, danke. Aber das kann ich mir sparen. Dein liebliches Stimmchen ist unverkennbar. Was willst du so früh?“.
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