Sie hatten, wer weiß zum wievielten Mal, geschlafen, sich auf vielen Treppenabsätzen gestärkt, sie waren ausgeruht. Flott und leichtfüßig sprangen sie von Tritt zu Tritt. Da geschah es! Marc stolperte, glitt aus und fiel. Er schrie auf. Akandra wollte ihn halten, aber seine Hand rutschte aus der ihren. Bei dem Versuch, den Fallenden noch zu fassen, verlor sie selbst das Gleichgewicht, und so stürzten beide in die unendliche Tiefe. Hart schlugen sie auf die Kanten der steinernen Stufen, suchten krampfhaft nach Halt und rollten weiter. Sie schrien nicht mehr, sie gaben keinen Laut von sich, sie hatten mit dem Leben abgeschlossen.
Ihr Fall war nur kurz, denn nach wenigen Stufen schlugen sie auf einem neuen Treppenabsatz auf. Ihre Körper schmerzten. Stammelnd riefen sie und waren erleichtert, als sie die Stimme des anderen hörten. Zum Glück waren sie unverletzt geblieben. Ein gebrochenes Bein wäre in dieser Situation das Todesurteil gewesen. Keuchend und stöhnend lagen sie nebeneinander. Das Zittern ihrer Körper ließ langsam nach, und auch ihre Herzen schlugen wieder ruhiger.
„Das war knapp“, sagte Akandra.
„Wo bist du?" fragte Marc, und seine Hand tastete zu der ihren.
Später tranken und wuschen sie sich im Brunnen des Treppenabsatzes. Das seltsame Wasser linderte die Schmerzen der Prellungen.
Bei ihrem weiteren Abstieg war die Angst wieder ihr Begleiter. Ganz langsam bewegten sie sich und tasteten erst mit dem Fuß nach der nächsten Stufe, bevor sie einen Schritt endgültig wagten. So kamen sie nur mehr langsam voran, doch einen zweiten Absturz hätten sie nicht überlebt.
In ihr dumpfes Brüten drangen plötzlich Trommeln, so als würden Pauken langsam und pianissimo geschlagen. Sie konnten nicht ausmachen, woher der Schall kam, aber mit jeder Stufe nahmen die Paukenschläge an Stärke und an Geschwindigkeit zu. Schließlich dröhnten sie so laut in ihren Ohren, dass es schmerzte. Und mit einem Mal war da auch eine Stimme. Sie vernahmen sie nicht mit den Ohren, sondern klar und deutlich im Kopf selbst.
Die Stimme flüsterte: „Kehrt um, ihr könnt nicht weiter. Kehrt um, dies ist ein verbotener Weg! Kehrt um, ihr dürft nicht weiter!"
Angstvoll raunte Marc: „Was sollen wir tun?"
„Weitergehen!" Akandra ließ keinen Widerspruch zu und zog ihn mit sich.
Die Warnung wurde mit den gleichen Worten wiederholt, diesmal jedoch lauter und energischer. Beiden lief kalter Schweiß über den Körper. Ihre Herzen schlugen bis zum Hals. Dennoch setzten sie tapfer einen Fuß vor den anderen. Die Stimme schrie nun in ihrem Kopf, und sie krümmten sich vor Schmerzen. Aber sie quälten sich vorwärts. Und endlich sahen sie einen Lichtschimmer weit unten. Er war noch schwach, wie ein Stern am Nachthimmel, aber er war da.
Im gleichen Augenblick, in dem sie das Licht sahen, verstummten das Trommeln und die Stimme. Es war wie eine Erlösung. So schwach die Helligkeit auch war, für ihre an absolute Dunkelheit gewöhnten Augen reichte sie aus, um alles um sie herum wahrzunehmen. Hoch über sich erkannten sie die Decke und rechts und links, weit entfernt, die Seitentreppen. Von Stunde zu Stunde wurde das Licht heller und heller. Sie wandten sich einander zu. Zwei bleiche, hohlwangige Gestalten starrten sich an und erschraken über ihren Anblick. Die Stufen der Treppe glänzten so hell, als wären sie aus Marmor, und als das Licht greller wurde, spiegelte es sich auf ihnen und blendeten die Besucher. Das Licht strahlte aus zwei nebeneinanderstehenden Säulen.
Endlich nach Tagen, Wochen oder Jahren erreichten die Erits die letzte Stufe der langen Treppe. Das Material, auf dem sie nun standen, war das gleiche, wie das der Stufen: weiß und glänzend und unglaublich hart. Zögernd gingen sie auf die Säulen zu. Das Licht, das ihnen entgegen quoll, war so hell, dass sie die Augen zusammenkneifen und mit den Händen schützen mussten. Quer vor den Säulen sahen sie einen roten Strich auf der Erde. Das Rot leuchtete, und der weiße Boden dahinter leuchtete auch. Vorsichtig überschritten Akandra und Marc die rote Linie und zuckten sofort entsetzt zurück. Eine furchtbare Stimme hatte in ihrem Kopf gedonnert: „Weicht zurück!"
„Hast du das gehört?" stammelte das Mädchen.
Der Junge nickte verschüchtert.
„Was nun? Wir müssen weiter!"
Sie nahm ihren Begleiter an der Hand und überschritt entschlossen erneut die rote Linie. Wieder donnerte die Stimme: „Weicht zurück!"
Gleichzeitig krampften sich ihre beiden Körper unter einem heftigen Schmerz zusammen. Es war, als würden alle Nerven gleichzeitig geschunden. Marc heulte auf, riss sich los und rannte zurück zur Treppe. Akandra folgte ihm. Auf der untersten Stufe ließen sich beide gequält nieder, bis der Schmerz nachließ. Ihre Gesichter waren tränennass.
„Dahin gehe ich nicht mehr“, stammelte Marc. „Das halte ich nicht noch einmal aus."
Er begann auf mit Händen und Füßen langsam und wie verloren die Treppe hinauf zu kriechen. Akandra eilte ihm nach. Sie hielt ihn fest und umarmte ihn.
„Lieber“, sagte sie, „wir müssen dort hindurch. Wir werden auch das durchstehen. Alle Schmerzen gehen einmal vorüber, und sei es durch den Tod."
„Nein!" antwortete er und barg sein Gesicht an ihrer Brust. „Ich bin zu feige. Lieber will ich auf der Treppe sterben."
„Lieber“, wiederholte sie, „du bist nicht feige. Der Schmerz ist wirklich fürchterlich. Aber gemeinsam können wir ihn ertragen. Wir haben keine andere Wahl."
Marc nickte tapfer und folgte geduckt dem Mädchen, so als erwartete er jeden Augenblick neue Schläge. Langsam und furchtsam schritten sie auf die rote Linie zu. Akandra überquerte sie ohne Innehalten und schrie auf. Auch Marc hob ein Bein, blieb dann aber stehen. Seine Muskeln waren gelähmt, sein Körper unterwarf sich seinem Geist nicht mehr. Akandra blickte sich um und eilte zurück. Sie ergriff seine ausgestreckte Hand und zog ihn in das Leiden. Sofort peitschte der Schmerz auf ihn ein, und die Stimme brüllte in seinem Kopf: „Weicht zurück! Ihr seid im Licht, und das Licht wird euch verwandeln. Weicht zurück!"
Schritt für Schritt, sich gegen ein unsichtbares Hindernis stemmend, quälten sie sich auf das Lichttor zu, bis sie zusammenbrachen. Akandra gab nicht auf und kroch weiter. Schon hatte sich halb zwischen den Säulen hindurch geschleppt, da bemerkte sie, dass ihr Begleiter draußen geblieben war. Halb von Sinnen kämpfte sie sich zu ihm zurück, fasste seine Hand und zog ihn, der sich ohnmächtig in Schmerzen wandte, mit sich. Er versuchte, sie zu unterstützen. Seine Füße glitten kraft- und haltlos über den glatten Boden. Zoll um Zoll näherten sie sich unter unsäglichen Anstrengungen und Leiden dem Ziel. Die Stimme war so unerträglich laut, dass ihnen die Augen aus den Höhlungen traten. Zu dem Schrei in ihrem Kopf und dem Schmerz gesellte sich nun auch noch das Trommeln, das sie schon kannten. Ein nicht enden wollender Paukenwirbel warf ihre Leiber in Zuckungen hin und her.
Die Kräfte Akandras schienen unerschöpflich. Trotz aller Pein gab sie nicht auf. Sie schleppte sich und Marc durch das Tor. Schlagartig verstummten die Stimme und das Trommeln und das Licht wurde schwächer. Die Schmerzen verebbten. Sie blieben liegen, wo sie waren, und verfielen in einen erschöpften Dämmerzustand.
Die Älteren
Lange lagen sie so ohne Bewusstsein. Es schien, als wollte es ihnen fernbleiben, damit sie nicht an die überstandene Tortur erinnert würden. Endlich nahmen die durchgestandenen Qualen die Form eines bösen Traumes an, und sie konnten es wagen, die Augen zu öffnen und ihre Köpfe vorsichtig zu heben.
„Ich glaube, wir haben es geschafft“, flüsterte Akandra.
„Du hast es geschafft“, berichtigte sie Marc.
„Wir sind beide hier, das allein zählt."
Gedämpftes Licht, das den Augen wohltat, dessen Ursprung sie aber nicht erkennen konnten, erleuchtete einen kreisrunden Raum, aus dem sieben Türen abzweigten. Eine Flöte spielte eine einfache, aber wundersame Melodie. Sie war so schön, dass es den Erits bei ihrem Klang wohl wurde. Sie ließ die überstandenen Schmerzen und Leiden verheilen. Die Töne drangen aus der mittleren Tür. Ohne nachzudenken gingen sie darauf zu und öffneten sie.
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