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Etwa um diese Zeit fand der junge Mann in Livree, der Hodler im Hotel empfangen hatte, Gelegenheit, unbeobachtet zu telefonieren. Er verlangte Mister Wright persönlich zu sprechen und sagte nach einer kleinen Weile gedämpft in die Muschel: „Mister Wright, dies ist ein Hinweis für Sie vom Empfangschef des Hotels Oriental. Ein Professor Beat Hodler, Schweizer, aus den Vereinigten Staaten kommend, hat nach Ihnen gefragt. Es wird Sie interessieren, dass er sich außerdem erkundigte, wie er zum Büro für industrielle Kooperation kommen kann.“
Er lächelte und deutete sogar eine leichte Verbeugung an, während er sagte: „Oh, keine Ursache, das war eine Selbstverständlichkeit, Mister Wright!“ Alles sprach er in seiner Landessprache Pashto.
Hodler hatte indessen ein Taxi bestiegen, sie passierten Militärposten, der Chauffeur zeigte auf das Ministerium für Grenzen und Stammesangelegenheiten. Der Schweizer war ein wenig enttäuscht, denn das Taxi fuhr schon nach kurzer Zeit dicht an den linken Straßenrand und hielt. Hier, inmitten eines modernen Viertels, lag das Büro für industrielle Kooperation. Das Gebäude, in dem es untergebracht war, unterschied sich kaum von den anderen sandfarbenen Betonklötzen, die mit ihm in einer Reihe standen. Kabul hatte wohl in den letzten Jahren keine Gelegenheit versäumt, sein äußeres Bild jenem anzugleichen, das man von den Großstädten Nordamerikas gewöhnt war.
Hodler hatte andere mittelasiatische Städte besucht, und er erinnerte sich gern an das bunte Durcheinander, das dort herrschte, an die Straßenhändler und die Rikschas, die spielenden Kinder am Straßenrand, und die Eselskarren und die Lastenträger, an die Düfte um die Straßenküchen herum, das Geschrei der Handwerker und das Menschengewimmel auf den Bürgersteigen. Kabul war anders, zumindest das Zentrum der Stadt. Der Professor war sich nicht klar darüber, ob er es moderner nennen sollte. Die mondäne Oberfläche wirkte aufgetragen, sie ließ erkennen, dass sie dünn war, künstlich. Wenn man die Schriftzeichen unter den Pepsi-Cola-Plakaten und Füllhalterreklamen, den Tafeln mit riesigen Zahncremetuben oder Taschenlampen gegen lateinische Beschriftungen austauschte, könnte das hier auch Florida sein oder Kalifornien. Der Unterschied war gering, denn selbst die Erzeugnisse, die sie anpriesen, waren die gleichen wie in den Vereinigten Staaten.
Beat Hodler entsann sich der Feststellungen eines seiner Kollegen, der längere Zeit in diesem Lande verbracht hatte und nach dessen Urteil Afghanistan unter dem Einfluss der Vereinigten Staaten im Begriff war, immer mehr von seinen nationalen Eigenarten zu verlieren. Zweifellos hatte dieser Prozess in der Hauptstadt begonnen und schon ein großes Ausmaß angenommen, darüber konnten die gepflegten Moscheen nicht hinwegtäuschen, die zwischen den Hochhäusern standen. Hätten diese Leute, die da auf den Bürgersteigen gingen, nicht orientalische Gesichter, dachte Hodler, könnten sie ebenso gut aus Palm Beach stammen oder Santa Monica. Die jungen Männer trugen Anzüge im gleichen Schnitt wie die dort, und die Kleider der Mädchen in den Shopping-Centern und Diskos unterschieden sich kaum von denen, die man in Los Angeles sah oder in Miami. Wer hatte einmal von den mystischen Schatten geschrieben, die der Halbmond in die lampenlosen Gässchen warf, auf die bizarren Konturen der Häuser mit ihren Dächern, wo Wäschestücke in allen nur erdenklichen, im Halbdunkel mitunter erschreckenden Formen vom leisen Wind gehoben und wieder fallen gelassen wurden? Von der Klangromantik eines aus einem anderen Stadtteil herüberklingenden Flötenlieds? Und der Duftromantik der Wohlgerüche des Orients, die sich im Bazar der Stoffhändler aus dem Odeur von Kattun und Pferdemist zusammensetzten? Kabul konnte er kaum damit gemeint hatten. Oder aber seine Feststellung beschränkte sich auf einzelne Orte wie jene Parkanlage, dem Shar-e-Nau, wo sich Kinder gegenseitig auf Schaukeln stießen oder Volleybälle über zerrissene Netze schlugen, die zwischen Mispel- und Persimonenbäume gespannt waren, und wo kleine und große Jungen Drachen steigen ließen. Oder die Hochzeitshallen, wo auch in düstersten Jahren kostspielige Vermählungen gefeiert wurden von afghanischen Familien, die sich nicht selten dafür lebenslang verschuldeten.
Ich werde umdenken müssen, begriff Hodler. Vieles vergessen und einiges hinzulernen. Dies war das Asien, wie es die Vereinigten Staaten ausprägten, wenn ihrem Einfluss freie Bahn gelassen wurde. Sollte man es bewundern? Oder sollte man nicht vielmehr betrauern, was da verlorenging?
Die Zufahrt zu dem modernen Bau war mit wuchtigen Betonklötzen und soliden Schranken gesichert und wurde von einem halben Dutzend bewaffneter Männer bewacht. Um das ganze Gelände zog sich eine hohe Mauer. Hodler betrat das Gebäude, nachdem er einer gründlichen Leibesvisitation unterzogen worden war, und blickte sich in der geräumigen Halle um. An einem Empfangstisch saß eine junge Afghanin in einem hautengen Kleid aus gelbem Kattun. Als Hodler auf sie zu ging, schlug sie die Beine übereinander; dabei war zu sehen, dass ihre Unterwäsche die gleiche Farbe hatte wie ihr geschlitztes Kleid. Sie trug eine Sonnenbrille, Hodler konnte ihre Augen nicht erkennen. Er nickte ihr zu und erklärte, er wolle zu Mr. Oates. Das Mädchen lud ihn höflich ein, Platz zu nehmen in einem Stahlrohrsessel. Während sie zum Telefon griff, dachte Hodler darüber nach, wie wohl das Leben eines solchen Mädchens aussehen mochte. War sie womöglich schon eine junge Frau? Was tat sie, wenn sie nicht hier saß und Besucher anmeldete? Worüber sprach sie mit ihrem Freund oder mit ihrem Mann? Hatte sie Sorgen? Oder lebte sie in dieser Umgebung, ohne sich Gedanken über das zu machen, was um sie herum vorging?
Sie bat ihn, sich noch ein wenig zu gedulden, während sie auf die Verbindung wartete. Mit einem freundlichen Lächeln, das nicht von den Augen ausging, die hinter den dunklen Gläsern versteckt waren, sondern von den Mundwinkeln, die sich leicht verzogen. Ein Geschöpf dieser Stadt. Sollte man aus ihrem modernen Kleid den Schluss ziehen, dass sie leichtfertig war? Oder hatte sie sich einfach einer Lebensform angepasst, die in Mode gebracht worden und gleichzeitig verfemt war? Waren Kleid und Brille, das offenbar von einem geschickten Friseur gepflegte schwarze Haar und das freundliche Lächeln mehr eingeübte Routine als Ausdruck ihrer eigenen Denkweise? Man müsste länger hier leben, dachte er. Man müsste die Seele dieser Menschen erforschen, wenn es sie unter der Oberfläche von Chrom und Neon, von Chicagoer Kattun und Gesichtscreme noch gab. Ich bin sicher, es gibt sie. Doch es wird schwer sein, sie zu entdecken.
Sechs Stockwerke über der Halle betätigte in diesem Augenblick ein etwa fünfzig Jahre alter, untersetzter US-Amerikaner, der hinter einem schweren Schreibtisch saß, einen kleinen Schalter. Auf einem der vier Bildschirme, die in die Wand eingebaut waren, erschien das Bild des Professors, im Stahlrohrsessel sitzend. Der Amerikaner betrachtete den Besucher eine Weile. Das Büro, in dem er sich befand, war von einer ausgezeichneten Klimaanlage gekühlt. Die Einrichtung bestand aus Teakholz. Neben einer Anzahl technischer Einrichtungen war das Zimmer noch mit bequemen Sesseln und einem kleinen runden Tisch ausgestattet. Fotografierte Landschaften aus den Vereinigten Staaten schmückten die Wände und verliehen dem Raum eine Nüchternheit, die durch die beiden gekreuzten Sternenbanner hinter dem Schreibtisch unterstrichen wurde.
„Schicken Sie ihn herauf“, sagte der US-Amerikaner in die Sprechanlage. Und schaltete das Bild ab. Der Mann wirkte genau so nüchtern wie seine Umgebung. Er zog sein schwarzweißkleinkariertes Sakko, das er einem eingebauten Garderobenschrank entnahm, über das blaugestreifte Hemd mit dem Seidenschlips in rötlichen Farben. Mechanisch griff er nach einer Zigarre, doch zündete er sie nicht an, sondern trat an eines der großen Fenster und blickte durch die Scheiben auf die Straße hinunter. Die Hände auf den Rücken gelegt, wippte er leicht mit den Fußspitzen auf und ab. Eine schlechte Angewohnheit noch aus seiner Ausbildungszeit. Er war weder erregt noch verärgert, er war auch durch den Besuch nicht überrascht. Mr. Oates, leitender Resident der Central Intelligence Agency in Kabul, hatte den Herrn Professor Beat Hodler erwartet. Ein Wissenschaftler, Mediziner. Schweizer. Mitglied der internationalen Kommission für die Bekämpfung des Drogenmissbrauchs mit Sitz in New York. Keiner von den eifervollen jungen Karriereleuten. Fünfzig vielleicht. Er wirkte gelassen, soweit man das auf dem Bildschirm zu erkennen vermochte. Jedenfalls ein nicht mehr junger Mann, ohne die Illusion, Rom an einem Tag zu erbauen. Nun ja, man hatte solche Leute aus internationalen Gremien oft genug erlebt. Dieser hier würde auf die Freuden der Kabuler Badehäuser verzichten, er würde auch kaum in die Gefahr zu bringen sein, über dem Lächeln einer Barfrau im UN-Quartier sein Anliegen zu vergessen. Vermutlich würde er nicht einmal viel Zeit damit vergeuden, nach echten Antiquitäten zu suchen; ein paar Souvenirs vielleicht für die Frau oder die Töchter zu Hause. Dinge, die zwischen dem Touristenkitsch lagen und dem teuren, kunsthistorisch wertvollen Sammlerstück. Wir werden sehen.
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