Der Beamte las laut den Namen: „Professor Beat Hodler?“
Der kleine Mann nickte.
„Arzt?“
Wieder nickte er. Der Beamte blätterte in dem Pass, fand das Visum und stempelte es ab. Mit einem freundlichen Lächeln übergab er dem Mann das Dokument zurück und bedeutete ihm, sich zur Zollabfertigung zu bemühen, einem niedrigen Tisch, der viele Meter lang war und auf den die Fluggäste ihre Gepäckstücke wuchteten. Hodler hatte keine Eile. Er stellte sich neben seinen Rollkoffern auf und wartete. Er blickte einzelnen kleinen Grüppchen vermummter Frauen nach, die indes polychrome Armreifen und goldene Ringe trugen und phantasievoll gemusterte mit Borten versehene Burkas mit eingewebten Edelsteinen. Ob es der Versuch war, Individualität herzustellen, Harnisch zu beseelen, oder lediglich Zeichen für das Vordringen der globalen Märkte zu den Körpern auch der afghanischen Frauen, sogar den verschleierten? Ein US-Amerikaner mit einem Gerätekoffer schlenderte vorüber, auf seiner Brust der T-Shirt-Aufdruck TEARS DOWN GROUP. Ein Beamter erschien und blickte Hodler fragend an, worauf der Schweizer seinen Gepäckschein reichte und auf die beiden nicht gerade großen Koffer deutete. Der Beamte erbat nochmals den Pass, erkundigte sich wiederum, ob Hodler Arzt sei, und als ihm das bestätigt wurde, legte er eine Hand auf einen der Koffer und fragte: „Berufsgepäck?“
Hodler verneinte.
Der Beamte wollte wissen: „Führen Sie Medikamente mit?“
„Kopfschmerztabletten.“
„Alkohol, Drogen?“
„Nein.“
Der Beamte setzte ein Lächeln auf, während er Pass und Gepäckschein aushändigte. Mit einem Stückchen Kreide machte er kleine Kreuze auf die Koffer, bevor er Hodler höflich einen angenehmen Aufenthalt wünschte. Hodler bedankte sich ebenso freundlich. Seine Koffer waren nicht schwer. Er rollte sie mühelos aus der Halle. Auf dem Vorplatz mit seinem breiten Sicherheitsabstand zu allen, die hier auf Heimkehrer warteten, blickte er sich suchend um. Unter den Werbebannern für Handys und neue Suppen sah er ausgemergelte Gestalten, die Gesichter von Entbehrung gezeichnet, die jedoch nach innen zu glühen schienen, mit hungrigen, stechenden Augen. Menschen mit solchen Augäpfeln vermochten ihr Leben in die Haut anderer einzubrennen. Die Männer schauten mit geschlossenen Mündern. Sie hatten allen Grund zu Misstrauen gegenüber den Ankömmlingen, die alle etwas wollten: ihren Profit, ihren Einfluss militärischer und politischer Art, ihr Land, ihre Frauen, ihre Würde. War je etwas Gutes gekommen von draußen, seit sie auf diese Welt gekommen waren?
Hodler entdeckte die Reihe Taxis, japanische und nordamerikanische Autos. Einer der Fahrer lief herbei und verstaute die Koffer, während Hodler einstieg.
„Man hat mir das Hotel Oriental empfohlen“, sagte der Professor, als der Fahrer sich hinter das Lenkrad klemmte. „Ist es ein vernünftiges Hotel?“
Der Fahrer war ein noch junger Afghane, der sehr kurz geschnittenes Haar trug und überhaupt den Eindruck eines Soldaten machte, der gerade ausgemustert worden war und in einem neuen Beruf zu arbeiten begann. Er wiegte den Kopf und antwortete: „Oriental ist ein gutes Hotel, Mister. Nicht eins von den teuersten, aber sauber und modern.“
„Klimatisiert?“
„Natürlich! Liegt in der Pul-e-Mahmood Khan. Geschäftsreisende wohnen meist dort.“
„Dann ist es richtig für mich. Fahren Sie mich bitte dorthin.“ Hodler blickte den Fahrer verwundert an, da dieser den Motor noch nicht anließ, sondern ihn fragend ansah. „Ist noch etwas?“
Der Fahrer hatte längst begriffen, dass dieser kleine Mann zum ersten Mal in Kabul war. Er würde ihn trotzdem nur in vertretbarem Ausmaß betrügen. Nachdenklich sagte er jetzt: „Pul-e-Mahmood Khan, das wären dann sechzig Afghani, Mister...“
„Aah“, machte Hodler. Es war offenbar üblich, sich vor der Fahrt über den Preis zu einigen. Er rechnete schnell, ehe er anbot: „Ich habe noch kein afghanisches Geld eingewechselt. Würden Sie mit drei Euro zufrieden sein?“ Immerhin lag der Flughafen nur etwa drei Kilometer nordöstlich der Hauptstadtperipherie.
Der Fahrer startete sogleich. „Damit bin ich sehr zufrieden, Mister.“ Ein Fahrgast, der nicht kleinlich war. Eigentlich wären zwei Euro für die Fahrt in dem nicht mehr ganz neuen und auch nicht gerade modernen Wagen genug. Während Hodler sich zurücklehnte, empfahl ihm der Fahrer: „Mister, wenn Sie einen bestimmten Tipp wollen, sagen Sie es bitte. Einen guten Stadtführer? Wir haben hier sehr gute Badehäuser mit Massage.“
Hodler lächelte. Er kannte das aus den Reiseführern, die er gelesen hatte. Doch er war nicht gekommen, um in einem hamam zu schwitzen und sich massieren zu lassen. Ein Restaurant, das war schon wichtiger.
Der Fahrer riet ihm: „Marco Polo oder Haji Baba, das sind die Restaurants mit der besten einheimischen Küche. Wenn Sie chinesisch essen wollen, empfehle ich Ihnen den Golden Dragon oder das Great Shanghai. Beide in der Kocheh-Morgha, der Chicken Street, wo Sie auch Teppiche und Antiquitäten erwerben können – alles sehr billig und bestimmt echt. Ein Taxi fährt Sie von Ihrem Hotel in ein paar Minuten dorthin. Bezahlen Sie nicht mehr als hundert Afghani, das ist reichlich!“
„Danke“, sagte Hodler. Hühnerstraße, dachte er, das klingt fast schon abgeschmackt. Der Chauffeur sprach ein einigermaßen gutes Englisch, doch das war wohl in dieser Stadt nichts Außergewöhnliches. Hodler blickte aus dem Fenster. Seine Augen klaubten automatisch all die Merkmale auf, die stützten, was vorab bekannt war: Ruinen, Kreuze, Grabhügel mit wehenden Flaggenfähnchen, Waffen, Einschusslöcher, Brandspuren, ausgebrannte Panzer, gestrandetes schweres Gerät und am Straßenrand einbeinige Kinder, einarmige junge Männer, minderjährige Witwen.
Die Stadt begann mit niedrigen Behausungen, doch dahinter türmten sich hohe Betonklötze in den Sandfarben von Schmirgelpapieren der neuen Bauten auf. Der Gegensatz konnte nicht größer sein: Eine riesige, neuerrichtete Moschee mit integrierten Schulgebäuden neben Glaspalästen für Banken, Hotels und Hochzeitshallen sowie einem gerade aufgebauten überdimensionierten Shopping-Center mit westlichem Interieur und der entsprechend modisch gestylten, vielfach weiblichen Kundschaft. Manchmal hatten die Architekten diesen modernen Bauwerken ein paar Arabesken verliehen, die daran erinnern sollten, dass dies ein orientalisches Land war. Ein Anblick, der Hodler nur bedingt beeindruckte.
Spürfahrzeuge donnerten vorbei, Panzer, Jeeps, Geländewagen der Schutztruppen und Kleinbusse der Nicht-Regierungsorganisationen. Ab und zu passierten sie knallbunte einzelne Zapfsäulen, die Tabernakel der Epoche des Klimawandels. Wenn er sich recht erinnerte, hatte sich so oder so ähnlich der Autor Roger Willemsen in dem Bericht seiner afghanischen Reise ausgedrückt.
Vor dem Hotel half der Fahrer ihm, die Koffer zu tragen. Hodler bedankte sich freundlich, doch der Mann wehrte den Dank ab. Er wünschte einen guten Aufenthalt und entfernte sich, zufrieden mit sich und dem unerfahrenen Fahrgast, dem er trotzdem nicht so viel Geld abgenommen hatte, wie es vielleicht möglich gewesen wäre.
Hodler schrieb sich in das Gästebuch ein und erstand die Kopie eines Stadtplans, während ein Hoteldiener in burgunderroter Polyesterlivree, weißem Hemd mit Ansteckkrawatte und steifer Schirmmütze bereits mit seinem Gepäck im Treppenaufgang verschwand, vorbei an einem mit einer Kalaschnikow bewaffneten Guard. Der Fahrstuhl war wohl wegen Stromausfall außer Betrieb. Der junge Mann, der Hodler abfertigte, nickte höflich, als der Gast sich erkundigte, ob er ihm auf der Karte eine paar Wege zeigen könne.
„Ja, sehr freundlich. Das Büro für industrielle Kooperation?“ fragte Hodler. „Es soll in der Straße fünfzig, der Sarak-e-Mehmana liegen.“
Читать дальше