Ich scrolle die Seite hinunter, sehe mir die Bilder des elisabethanischen Herrenhauses, der prachtvollen Gärten und des mehrere Quadratkilometer großen Labyrinths an. Hm. Da kann man bestimmt drin verloren gehen. Ich lehne mich grübelnd zurück. Vielleicht ist ein Urlaub genau das Richtige für mich. Tapetenwechsel. Ich möchte schließlich endlich nach vorne schauen. Schon will ich mir die Preisinformationen ansehen, da fällt mein Blick auf den Umschlag, in dem die Karte steckte.
Nachdenklich drehe ihn in meinen Händen herum. Ein schlichtes weißes Kuvert, hochwertiges Papier ohne Zweifel, aber nur ein Briefumschlag. Ein Umschlag, der einfach so in meinen Briefkasten geworfen wurde. Nur mein Vorname steht drauf, handgeschrieben, ohne Absender, Firmenlogo und natürlich fehlt der Poststempel. Wieso sollte ein gediegenes Hotel in England, auf so eine Weise Werbung machen und einem Unbekannten in einem Kaff in Brandenburg, Deutschland eine Visitenkarte ihres Resorts zukommen lassen? Noch dazu, da sie eine spezielle Klientel ansprechen. Ich bin zwar hier im Ort geoutet, aber ansonsten ... Das ist ziemlich seltsam.
Ich betrachte die Schrift, kann sie jedoch spontan niemandem zuordnen, den ich kenne. Von Andreas ist der Brief jedenfalls nicht, er hat im Gegensatz zu den eleganten, fast zierlichen Buchstaben eine Sauklaue. Könnte von einer Frau geschrieben sein. Angelika? Nein, sie schreibt ausladender, kühner. Dann also vielleicht wirklich Werbung, aber auf diese Weise? Ein Reiseprospekt verschickt durch irgendeine Marketingfirma, ja okay, doch ein anonymer Brief ohne Anschreiben? Sehr merkwürdig. Sogar unheimlich. Und nach reiflicher Überlegung definitiv nichts für mich. Ich möchte zwar mein Leben wieder in die Hand nehmen, einiges ändern und nicht weiter Trübsal blasen, deshalb muss ich jedoch nicht gleich leichtsinnig werden.
Ich verlasse die Seite, checke rasch meine Mails und schalte dann ab. Umschlag und Visitenkarte landen im Papierkorb neben dem Schreibtisch. So Problem gelöst. Ich wandere ins Wohnzimmer, um obligatorisch wieder die Mattscheibe anzuschalten, entscheide mich aber spontan um. Neuer Anfang, Jan!
Im Flur schlüpfe ich in meine Sneakers, schnappe mir Schlüssel und Geldbörse und gehe noch mal nach draußen. Es ist ein lauer Sommerabend, perfekt für einen entspannten Spaziergang. Hm, ich könnte auch auf ein Bier bei Mattes vorbeischauen. Die kleine Kneipe nur zwei Straßen von meiner Wohnung entfernt ist unsere Stammkneipe und unser Wirt ein Pfundskerl. Argh, verdammt! Schon wieder dieses ‚uns‘. Hier im Dorf gibt es keinen Ort, der nicht mit Andreas verbunden ist. Diese Erkenntnis verpasst meiner hochgesprudelten Euphorie einen empfindlichen Dämpfer.
Ohne bewusst zu entscheiden, tragen mich meine Füße zügig zurück nach Hause. Es bringt nichts, mit aller Gewalt mein Sozialleben auf Vordermann zu bringen, wenn mich ein Geist aus der Vergangenheit dauernd heimsucht. Ich brauche tatsächlich einen Tapetenwechsel. Theoretisch bräuchte ich sogar mehr als das. Einen Neuanfang, am besten in einer anderen Stadt, wo mich keiner kennt. Neue Wohnung, neuer Job. Neue Freunde. Aber dafür bin ich wohl nicht abenteuerlustig genug. Zudem ist so ein Großstadtleben wahrlich nicht mein Traum. Unser 5000-Seelen-Dorf reicht mir völlig. Bin halt ein bodenständiger Typ, nicht unbedingt offen für tief greifende Veränderungen.
Ändern muss sich jedoch etwas. Ich möchte definitiv einen Neuanfang, eine Chance auf ein kleines bisschen Glück, nicht nur wie ein Roboter die Tage überstehen. Und ein Urlaub ist ein guter Anfang. Mit neuem Elan nehme ich gleich zwei Stufen auf einmal, pfeife sogar ein Liedchen, das mir einfach so in den Sinn kommt. Ich grinse. Wäre doch gelacht, wenn ich das nicht hinkriege.
In der Wohnung gehe ich zielstrebig ins Büro, fische die Visitenkarte aus dem Papierkorb und fahre den PC hoch. Ich plumpse in meinen Bürostuhl, trommle ungeduldig mit den Fingern, bis die Seite lädt. Okay, schnelles Internet ist hier bei uns noch Wunschdenken. Ein Pluspunkt für eine größere Stadt.
Ah, da ist es ja. Ich scrolle zum Ende der Website, wo ein Infoformular bereitsteht. Ich lade es herunter, drucke es mir sofort aus. Dann schaue ich direkt mal nach, was mich der Spaß in etwa kosten würde. Oh ha, ziemlich happig. Hm, das sind englische Pfund, Mist, ich hab den Kurs nicht auf dem Schirm. Na ja, später. Eine Woche in Cornwall wird mich schon nicht ins Armenhaus bringen. Der Drucker rattert munter vor sich hin, spuckt Blatt um Blatt aus. Mann, das hört ja gar nicht mehr auf. Haben die einen Roman geschrieben oder was?
Ich stehe auf, tapse in die Küche, hole mir ein Bier, dann nehme ich den ausgedruckten Stapel ins Wohnzimmer mit, plumpse auf die Couch und lege die Beine hoch. Interessiert beginne ich zu lesen, wobei mir schon nach wenigen Zeilen beinahe die Augen aus den Höhlen springen. Was ist das denn jetzt? Tausend Fragezeichen erscheinen in Neonlettern und ich schaue vorsichtshalber noch mal auf das Deckblatt.
Okay, das ist die Anzeige eines 5-Sterne-Hotels in Cornwall, England. Keine Anwerbung als Callboy. Und doch geht mir genau das durch den Kopf, als ich den Fragebogen durchblättere. Fragen, wie aktiv oder passiv gehören noch der harmlosen Sorte an. Hastig setze ich mein Bier an, nehme einen kräftigen Schluck aus der Flasche. Danach lege ich das auszufüllende Formular erst mal beiseite und lese in aller Ruhe das Konzept von ‚The key‘.
Nach ungefähr einer halben Stunde lasse ich die Broschüre sinken. Ich muss zugeben, ich bin mehr als beeindruckt. ‚The key‘ ist selbstverständlich kein Bordell, Liebeshotel scheint mir die passende Bezeichnung zu sein. Nachdenklich trinke ich mein Bier. Mein Blick wandert durchs Wohnzimmer, erfasst die vertraute Umgebung. Andreas mag die offensichtlichen Erinnerungsstücke alle mitgenommen haben, doch jedes Möbel, ja selbst die Wände und der Fußboden, stecken voller Geschichten über unser Leben, unsere Beziehung. Es ist wirklich an der Zeit, dass ich mich neu orientiere. Mutiger werde. Ein Aufenthalt in einem Liebeshotel in Cornwall scheint mir da ein geeigneter Anfang zu sein. Auf neutralem Boden, fernab der Heimat, erste Gehversuche in eine neue Richtung zu unternehmen, kommt mir immer verlockender vor.
Entschlossen schnappe ich mir den Fragebogen, lese ihn diesmal in aller Ruhe durch, ehe ich ihn gewissenhaft von A - Z ausfülle. Meine roten Ohren und heißen Wangen blende ich aus. Ist ja keiner hier, der was mitkriegt. Über die Angabe eines Pseudonyms grübel ich eine ganze Weile, entscheide mich dann einfach für ‚John‘. Es kommt meinem Realnamen nahe genug, sodass ich mich damit hoffentlich wohlfühle, wenn man mich so anspricht. Danach rufe ich die Nummer auf dem Anmeldeformular an und werde mit einer Heather Sinclair verbunden, die mir die weiteren Details erklärt. Diskretion und absolute Anonymität sind sowohl für die Gäste als auch die Angestellten von ‚The key‘ von höchster Priorität.
Ein Expresskurier wird Montagmorgen die Anmeldung abholen und ihr zuschicken. Der Fragebogen, mein Wunschkatalog sozusagen, wird dann mit anderen Einsendungen ausgewertet, ein passender Begleiter gesucht und danach verschiedene Termine genannt, zu denen ich anreisen kann. Nach der Zuweisung der jeweiligen Partner werden die Formulare vernichtet, versichert mir Heather, wie ich sie nennen soll, sehr glaubhaft.
Natürlich erklärt sie mir auch, dass die Paarung unverbindlich ist und jeder individuell entscheidet, wie er die Woche gestalten will. Sex sei eine Sache, die man untereinander ausmache und keinesfalls obligatorisch, was mich ehrlich gesagt gleichermaßen erleichtert und enttäuscht. Denn trotz einer mehr als zehnjährigen Beziehung fühle ich mich auf sexuellem Terrain irgendwie unbeholfen. Es war ja nie großes Feuerwerk zwischen Andreas und mir. Wenn bei einem anderen Mann ebenfalls keine Funken sprühen, dann stünde zumindest eindeutig fest, dass ich Schuld am Scheitern unserer Liebe bin. Ein ernüchternder Gedanke.
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