„Wollen Sie sich in Ihr Schicksal fügen?“, fragte er liebenswürdig.
Stöhnend sank mein Vater im Stuhl zusammen.
„Wenn Sie dafür sorgen, dass dem Jungen nichts geschieht!“
„Mein Ehrenwort!“, erwiderte mein Großonkel ernst. „Sein Wohlergehen ist mir wichtiger als meine eigenen Ziele, Ormerod. Denn er soll einmal die Triumphe erringen, die das Schicksal mir versagt hat. Ich hoffe jedoch, diese Triumphe schon recht bald noch selbst genießen zu können. Aber“, und zum ersten Mal überzog ein Schatten sein Gesicht, „ich bin immerhin schon vierundsechzig. Viel Zeit bleibt mir wahrscheinlich nicht mehr.“
Mein Vater betrachtete ihn verblüfft.
„Sie sind ein seltsamer Mensch, Murray. Wenn ich Sie nur verstehen könnte!“
„Das eben können Sie nicht! Nun, die Zeit verrinnt. Wir müssen fort. Unterwerfen Sie sich?“
Mein Vater neigte den Kopf.
„Ja, um seinetwillen“, sagte er, und als er bemerkte, wie ich die Fäuste ballte und losschlagen wollte, befahl er mir: „Keine Gewalt, Robert! Wir stecken in einer Falle, der wir jetzt nicht entrinnen können. Aber ich versichere dir: Ich werde alles, was in meiner Macht steht, tun, um dich zu befreien!“
Mein Großonkel winkte Silver zu.
„Machen Sie’s Master Ormerod so bequem wie möglich, John“, wies er ihn an
Silver nickte und deutete mit dem Daumen auf den Stuhl meines Vaters.
„Ja, binden Sie ihn in seinen Stuhl“, befahl mein Großonkel und wandte sich dann an meinen Vater. „Nebenbei, Ormerod, was Ihre letzte Bemerkung betrifft, so möchte ich Sie daran erinnern, dass jeder Schuss, der auf mein Schiff abgefeuert wird, ebenso gut Robert treffen kann wie irgendeinen anderen. Deshalb nehmen Sie am besten meinen Rat an: Lassen Sie die Hände weg! Nach einem Jahr – allerhöchstens nach zwei Jahren – wird der Junge wieder heil zurück sein und ein Vermögen besitzen, das für Sie einfach unvorstellbar ist.“
„Lassen Sie ihn so zu mir zurückkommen, wie er heute ist“, bat mein Vater. „Mehr verlange ich nicht.“
Murray schnupfte.
„Eine äußerst korrekte Haltung, Sir“, bemerkte er. „Haben Sie noch etwas zu sagen?“
Mein Vater schwieg.
„Gut denn, John“, wandte sich mein Großonkel an Silver. „Sie können den Knebel festmachen. Nein, nicht dieses grobe Sackleinen! Hier ist ein Seidentuch.“
Während Silver meinem Vater den Mund knebelte, heftete mein Großonkel den Blick auf Peter und mich.
„Und nun, Freund Peter, kommen wir zu Ihnen – und zu dir, mein lieber Neffe. Ich wollte, diese Vorsichtsmaßregeln wären unnötig. Hoffen wir jedoch, dass ihr bei näherer Bekanntschaft freundlichere Gefühle für mich empfinden werdet.“
Das Gesicht meines Vaters mit tränenfeuchten Augen – das war das Letzte, was ich in dem trüben Kerzenlicht erblickte. Im nächsten Augenblick schleppten mich meine Häscher in den dunklen Garten hinaus und hoben mich auf einen jener Handkarren, mit denen man gewöhnlich zerbrechliche Waren vom Hafen holt. Peters massige Gestalt füllte bereits zum größten Teil die beschränkte Ladefläche des Karrens, während ich äußerst unbequem zwischen ihm und der Seitenwand eingeklemmt lag. Als Silver das sah, zerrte er Peter auf ein schmäleres Plätzchen und breitete dann über uns beide ein geteertes Segel.
„So, meine Herren, jetzt sind Sie sicher verstaut wie ’ne Rinderkeule und ein Pökelschinken“, sagte er freundlich. Dann wandte er sich an meinen Großonkel: „Wir sind bereit, Kapitän, sobald es Ihnen passt.“
„Gut, nichts wie vorwärts, John“, antwortete mein Großonkel. „Sie kennen doch den Weg? Green Lane heißt das Gässchen. Vier Mann zu Ihrer Begleitung genügen.“
„Nur keine Sorge, Kapitän“, erwiderte Silver.
„Ich selbst schlage mit den übrigen einen anderen Weg ein.“
Der Kies knirschte unter den Schritten, die sich entfernten, und ich hörte die Krücke des Einbeinigen kratzend über den Boden schleifen, als er voranstelzte und der Karren holpernd losfuhr. Ich merkte, dass sie durch die hintere Einfahrt auf ein Gässchen hinauszogen, wo sie am wenigsten befürchten mussten, beobachtet zu werden. Dann hielten sie inne, während Silver wahrscheinlich unter dem Schutz der Mauern die Green Lane entlangspähte.
„Kein Segel in Sicht“, stellte er bald darauf fest. „Zum Henker, was für ’ne stockfinstere Nacht! Vorwärts, Schwarzer Hund! Ein bisschen mehr Druck dahinter! Wenn diese Brise anhält…“
Wir tauchten in die Green Lane hinaus und hielten auf den East River zu. Ein Schauer lief mir eiskalt den Rücken hinunter, als ich den Singsang unseres alten Nachtwächters Diggory Leigh hörte:
„Schlag zehn, klar und dunkel die Nacht und der Wind von Nordwesten. Und alles ruhig!“
„Still!“, flüsterte Silver seinen Kumpanen zu. „Schiebt an, ihr Kerle, schiebt an! Aber haltet den Schnabel. Ich rede schon mit ihm.“
Die Stahlspitze seiner Krücke klirrte auf den Pflastersteinen, während er vor dem Karren einherstelzte.
„Heda, Kamerad!“, rief er herzlich. „Machen Sie das eigentlich die liebe lange Nacht hindurch?“
Diggorys Laternenstange klirrte auf dem Boden auf.
„Jawohl“, erwiderte er in hochtrabendem Ton. „Was führt euch noch so spät auf die Straße? Ihr seid wohl Seeleute, wie?“
„Hut ab vor so viel Scharfsinn!“, beteuerte Silver mit unverhohlener Bewunderung. „Sie sind ein aufmerksamer Wächter, Kamerad! Hol mich der Teufel – in Ihrer Stadt möchte ich nicht gern ein Bösewicht sein, verdammt noch mal!“
Wie sehr sich Diggory durch dieses Lob geschmeichelt fühlte, hörte man am Klang seiner Stimme, als er antwortete:
„Tjaja, unsere Bürger müssen beschützt werden. Das ist hochwichtig! Und doch haben mich einige Leute beschuldigt, ich schliefe auf der Wache.“
„Duckmäuser sind das – verdammt schäbige Duckmäuser!“, versicherte Silver. „Ja, ich kann’s Ihnen schon nachfühlen. Da schuften wir schon seit Sonnenaufgang: die Ladung verfrachten und an Bord verstauen. Und wofür? Ich gehe jede Wette mit Ihnen ein, dass uns der Kapitän noch nicht mal ’ne Sonderzuteilung Rum zu saufen gibt.“
Diggorys Spieß klirrte wieder, als er ihn schulterte.
„Tja, mein Freund, die Männer, die das Kommando führen, sind nicht immer die Klügsten“, sagte er. „Nach dem Geschwätz, das ein paar von den Stadträten verzapfen, könnte man glauben, sie würden die Nachtdiebe und Gauner von den Straßen fernhalten! Pah!“
Er brummelte noch immer vor sich hin, während sich seine klagende Stimme in der Pearl Street verlor.
„Was grinst ihr da, ihr Nachtdiebe und Gauner!“, sagte Silver zu seinem Gefolge. „Los, Kerls, spuckt in die Hände und schiebt diesen gesegneten Karren vorwärts!“
Ein paar hundert Schritt weiter ratterten wir vom Pflaster auf die mit Planken ausgelegte Plattform eines Piers.
„Seid ihr das, John?“, brummte eine Stimme.
„Ja, ja, Bill. Wo ist der Kapitän?“
„An Bord, in der Jolle. Dieser spanische Irländer wartet auf ihn.“
Ich hörte Silver mit leiser Stimme fluchen. „Das hab ich mir doch gleich gedacht, dass ’n verdammtes Geheimnis hinter diesen Geschäften steckt! Aber hol’s der Teufel! Warum soll ich mich darum scheren, wo ich doch nichts weiter bin als Quartiermeister auf der alten ` Walross ´? Du dagegen, Bill, bist Flints Maat.“
„Ja, und…?“, unterbrach ihn Bill und stieß eine Flut von Flüchen aus. Es war derselbe braungesichtige Bursche, der mit Darby im ` Walfisch´ gesessen hatte. “Der ganze Kram ist zum Kotzen! Flint weiß selbst nicht viel mehr als du und ich.“
„Anderen Leuten schlitzt er gern den Bauch auf, aber von Murray lässt er sich ’ne ganze Menge gefallen“, entgegnete Silver. Er zog das Segeltuch von unseren Köpfen weg und brummte dabei: „Die Sache gefällt mir nicht.“
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