Freyas Herz schien für ein paar Schläge auszusetzen. Ihr geliebter Bruder kam. Endlich! Aufgeregt sprang sie auf der Wiese herum. Sie flocht sich lange Grashalme in die Haare, ungeachtet der Tatsache, dass auch das Gras dadurch sterben würde. In diesem Moment war es ihr egal. Baldur war auf dem Weg zu ihr!
Während die Stunden vergingen, begann das Mädchen langsam wieder klarer zu denken. Aus Aufregung wurde Unruhe, aus Hoffnung Angst. Und auch Thoralfs gutmütiges Gesicht nahm einen nachdenklichen Ausdruck an.
Als der Tag sich dem Ende neigte und die Schatten länger wurden, starb die letzte Hoffnung in dem kleinen Herz, denn über die Wiese näherte sich eine Gestalt, gebückt mit einem Stock in der Hand und flammenroten Haaren. Das war ganz sicher nicht Baldur. Tränen begannen, Freyas Sicht zu behindern und neben sich hörte sie Thoralf murmeln.
„Welch bösartiges Geschick. Die Kinder der Hexe haben ihren eigenen Dickkopf. Wie Blätter im Wind treiben wir dahin, mal rechts taumelnd, mal links, doch immer im Sturm gefangen. Doch nie sah ich ein Blatt, das im Sturm rückwärts flog. Bis heute! Möge Kvasir dich beschützen, Baldur, Gerdas Sohn.“
Thoralf erhob sich und ging der rothaarigen Gestalt entgegen. Als Freya sich die Tränen aus den Augen wischte, erkannte sie, dass es sich bei ihr um eine alte Frau handelte.
„Nun Thoralf, ich sehe Gerdas Tochter vor deiner Hütte sitzen, doch wo ist ihr Bruder? Er sollte am Mittag dieses Tages hier eintreffen“
„ Ich hoffte, du würdest mir erklären können, warum er nicht kam, Hilda. Seit dem Morgen warten wir auf ihn, doch scheinbar haben ihn seine Wege an einen anderen Ort geführt.“
Da brach Hilda schluchzend auf der Wiese zusammen. Sie war am Ende ihrer Kräfte und der erlebte Schrecken begann mit aller Gewalt in Ihren Geist einzudringen. Unter Tränen berichtete sie von ihrer Ankunft bei Gerdas zerstörter Hütte, der Vertreibung des Traumfängers, der Übernachtung in Ursulas Höhle und dem Angriff der Kreaturen, der Rosa das Leben gekostet hatte. Wie sie so schluchzend im Gras lag, erregte sie ein tiefes Mitleid in Freyas Herz. Das Mädchen setzte sich zu ihr und begann, ihr über die Haare zu streichen, wobei sie seltsame Worte murmelte. Beinahe sofort versiegten Hildas Tränen und sie blickte verwundert auf das Kind. „Du bist wahrlich Gerdas Tochter. Eine solche Macht, eine solche Heilkraft habe ich schon lange nicht mehr verspürt. Du musst lernen, deine Kräfte gezielt einzusetzen.“
„ Die Worte, du musst lernen, höre ich beinahe täglich, seit ich hier bin. Doch immer folgen ihnen die Worte doch nicht durch mich. Wirst du meine Ausbildung übernehmen?“
Hilda sah Freya lange in die Augen. Schließlich seufzte sie.
„All unsere Pläne sind zunichte gemacht, weil dein Bruder meinen Rat missachtet hat. Warum sollten wir also keine neuen Pläne machen? Es war nicht geplant, dass Thoralf oder ich deine Lehrer sein würden. Die Schicksalsweber hatten es anders vorgesehen, doch glaube ich, dass auch die Götter zuweilen ihre Meinung ändern. Was meinst du, Thoralf, war es vielleicht der Wille des Schicksals, das Baldur unserer Obhut beraubt wurde?“
Thoralf hatte bisher schweigend in den Himmel gestarrt.
„Ich glaube zu wissen, welche Mächte deinen Weg gekreuzt haben. Die Krieger, die den Überfall auf die Höhle begangen haben, waren ohne Zweifel die Leibgarde des Hexenkönigs aus dem Osten. Ein sehr mächtiger und sehr böser alter Zauberer, der die stärksten Männer aussucht und sie durch Folter und Misshandlung zu brutalen, gnadenlosen Kämpfern macht. Der Anführer dieser Horde war gewiss ein Wiedergänger. Nur alte Magie kann ihn zerstören. Und genau das ist dem Jungen in der Nacht erschienen, alte Magie. Als ich deine Geschichte hörte, dachte ich zunächst an einen Sukkubus, der den Alptraum verursacht haben könnte. Doch glaube ich nun, es war eine Norne des Schicksals, eine Schicksalsweberin. Ich weiß, dass die Schwesternschaft sich selbst als die Zweitgeborenen bezeichnet, doch ist dies nur ein Ausdruck völliger Ignoranz. Weder waren die Traumfänger die ersten Lebewesen, noch die Hexen. Es mag für diesen Teil der Welt zutreffen, doch anderenorts leben Geschöpfe, die schon alt waren, als die ersten Traumfänger erschienen. Wir sind, will mir scheinen, Figuren in einem Spiel geworden, dessen Regeln wir zu bestimmen glaubten, dass jedoch von anderen Wesen, weit über uns gelenkt wird.“
„Wäre es an dem, welchen Sinn hätte es dann, Pläne zu schmieden? Wenn alles vorbestimmt ist und jemand unsere Taten lenkt, was nützen die Ideen Einzelner?“
„Indem du dein Leben planst, bekommst du wenigstens das Gefühl, Herr deiner selbst zu sein. Und wer weiß, auch Götter können ihre Meinung ändern, wie du selbst gesagt hast. Vielleicht ist ja genau das geschehen, dass die Götter ihre Meinung geändert haben. Vielleicht hatte ein Wesen eine Idee, die dem, der die Regeln bestimmt so gut gefallen hat, das es zu einer Veränderung im ursprünglich geplanten Ablauf kam.“
Sehnsüchtig blickte der alte Mann in Richtung Süden.
„Es war so knapp. Fast wären die Geschwister wieder vereint gewesen. Doch nun sollten wir handeln. Wenn Gerda noch immer auf der Suche nach ihrer Tochter ist, wird sie früher oder später hier vorbeikommen. Lass uns mit der Ausbildung des Mädchens beginnen, während wir auf ihre Mutter warten.“
Beschämt musste Freya feststellen, dass sie bisher keinen Gedanken an ihre Mutter verschwendet hatte. Immer war nur ihr Bruder durch ihren Kopf gespukt, und mit einem Gefühl der Trauer fragte sie sich nun, wie es ihrer geliebten Mutter wohl ergangen sein mochte.
Es war ihr nicht leicht gefallen, doch wusste sie, dass es die richtige Entscheidung war. Hilda und Rosa würden Baldur sicher zu Thoralf führen, während sie sich auf die Suche nach Freya begab, ein mühseliges Unterfangen ohne Pferd und ganz allein.
Tief in ihrer Seele spürte Gerda, dass es Freya gut ging, aber dennoch war sie beunruhigt. Ihre Tochter war von einem Traumfänger entführt worden!
Wenn eine dieser Kreaturen auf die Welt zurückgekehrt war, so bedeutete das mit großer Sicherheit, dass auch die übrigen nicht mehr in ihrer Verbannung lebten. Gerda wusste nur zu gut, welches Unheil die Erstgeborenen anzurichten vermochten, war sie doch beteiligt gewesen am großen Krieg gegen diese Kreaturen.
Das Wesen hatte eine Schneise der Verwüstung hinterlassen. Abgebrochene Äste wiesen ihr den Weg, tief hinein in das Herz des Waldes. Während sie der Spur des Entführers folgte, bemerkte sie, dass kein Vogel sang in den Bäumen, an denen der Traumfänger vorbeigekommen war. Selbst die Bäume schienen, voller Entsetzen die Luft anzuhalten. Und obwohl der Überfall auf Gerdas Zuhause schon mehr als drei mal sieben Tage zurücklag, glaubte sie noch immer, den Gestank der Kreatur an den Blättern und Ästen ringsum wahrzunehmen. Immer tiefer hinein in den Wald führte die Spur und Gerda hätte schon längst jede Orientierung verloren, wäre sie nicht ein Kind der Bäume, ein Mitglied des geheimen Ordens gewesen. Sie kannte jeden Baum und jeden Strauch in diesem Wald, in dem sie schon so viele Jahre lebte. Sie wusste auch um den Reichtum tierischen Lebens in den verschiedenen Regionen. Doch schien es, als sei der Wald entlang des Pfades, den der Traumfänger gewaltsam angelegt hatte, ausgestorben. Kein Rascheln im Laub war zu hören, kein freudiges Gezwitscher in den Ästen. So also sah ein Ort aus, der von einem Erstgeborenen besucht worden war, selbst viele Tage später noch schien ein Widerhall der Bosheit dieser Kreaturen die Luft zu verpesten. Wie erst mochte es dann wohl an jenem traurigen Ort aussehen, an dem sich der ganze Rest der Gruppe aufhielt?
Als die Reihen der Bäume lichter wurden, wusste Gerda, dass sie sich der Lichtung der Blumen näherte. Es war dies einer der schönsten Orte des gesamten Waldes. Die meiste Zeit des Jahres war das Gras auf dieser Lichtung braun und unansehnlich, als hätten die Strahlen der Sonne es verbrannt.
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